Städte in der Krise: Warum wir unsere Bausünden so lieben
Seite 3: Aufbruch ins Bestehende
Bestandsbauten können nur dann vor dem Entwertungsdruck geschützt werden, wenn sie in ein Lebenszyklusmodell eingebunden werden. Ihre vorgeblich alternativlose Abnutzung bietet gerade die Chance, unter allen möglichen Neunutzungen die beste Idee herauszusuchen. Sie erstehen wieder und haben im Stadtgefüge ihren alten Ort neu besetzt. Ihr Ort ist ein "Ander-Ort" (Heterotopie) geworden. Die umgenutzte Kirche ist nicht mehr die Kirche, das Kaufhaus ist nicht mehr das Kaufhaus.
Aber auf diskrete Weise sind sie noch anwesend. Sie reihen sich in die Summe aller ehemaligen, gegenwärtigen und künftigen Nutzungen ein. Carlo Scarpa würde vom "additiven Fügen" sprechen. Die Wirkung ist wundersam, angenehm, augenfällig. Diese Bauwerke sind die Chamäleons der Großstadt. Großstadt ist Spurensuche.
Der Topos eines "Ander-Ortes" lässt sich insgesamt auf das Recycling von gebrauchten Baumaterialien übertragen. Als Abfall sind sie überflüssig und lästig. Aber: "Dirt is matter in the wrong place." Am richtigen Ort ist Dreck wertvoll und heißt anders.
Entwerfen im Bestand meint, nach Indizien zu suchen, was sein könnte, was im Verborgenen schlummert. Die Architektur würde zur Geburtshelferin, die den Schatz birgt und als sich von innen her entwickelnde Ganzheit beobachtet.
Sie greift nur durch Anpassung ein. Am Ende der Entwicklung stehen Baulichkeiten, die so aussehen, als hätten sie immer schon da gestanden. Sie haben eine Aura bekommen, selbst wenn man es bei der Massenware der Nachkriegsmoderne nicht vermuten würde.
Das "Abriss-Moratorium" ruft zum "Aufbruch ins Bestehende" auf. Die Architektur muss sich ihren Expansionsdrang abschminken und sich ins Ready-made hineinversetzen. Die Stadt der Zukunft ist längst gebaut. Die Bestandsbauten zu bewahren heißt, unserer Vergangenheit eine Zukunft zu geben. Die Stadtentwicklung insgesamt folgt einem Lebenszyklus-Modell.
Gibt es nicht auch gute Gründe für Abrisse? Die Nachkriegsmoderne setzte mit ihren in die Höhe strebenden Neubauten eine funktionelle Bauweise fort, die Friedensreich Hundertwasser an Hühnerkäfige gemahnte.
Dazu sollte die Kahlschlagsanierung Fläche für die autogerechte Stadt beibringen. Hat nicht die Nachkriegsmoderne selbst die Rechtfertigung geschaffen, sie nunmehr abzureißen – so wie sie ihrerseits mit den gründerzeitlichen Altbauten umging?
Werden die Architekten und Planer von ihren eigenen Sünden eingeholt? Werden ihnen, sobald heute etwas schiefläuft oder nicht ins konservative Bild passt, ihre alten Fehlleistungen um die Ohren gehauen, um sie auszubremsen?1 Einmal Bausünder, immer Bausünder?
Das ist zu einfach. "Haltet den Dieb!" zieht nicht. Die baulichen Verfehlungen von damals können die Tugenden von heute sein. Leerstände plus kreative Umnutzungen nehmen der Brutalität der Nachkriegsmoderne ihren Schrecken.
Der Terror ist der Friedlichkeit gewichen. Dazu kommt die Wiederentdeckung vieler Zeugnisse einer sozialen und ästhetisch anspruchsvollen Fortsetzung der Moderne, voran das Berliner Hansaviertel. Und wo sich heute noch "betonbrutalistische" Partien in der Stadt gehalten haben, sei bedacht, dass die Härte der Architektur und die Härte des städtischen Soziallebens einander entsprechen.
Die Brüche können nicht eskamotiert werden, aber verlorene Orte können durch punktuelle künstlerische Interventionen wieder angeeignet werden. Die Verstoßenen werden wieder eingemeindet. Die Nachkriegsmoderne kann neu gelesen werden.
Das ist schon seit längerem Im Gange. Aber nun bewegt sich etwas. Mit dem Abriss-Moratorium ist eine Gruppe von Architekt:innen und Planer:innen endlich aufgebrochen, um sich ihrer Verantwortung zu stellen. Die Vorgeschichte gehört dazu.2