Bühnen, Netze, Ströme

Seite 2: Netze im Strom

Nach einer langen, ebenfalls bis in antike Zeiten zurückreichenden Karriere erlangen "Netze" im späten 20. Jahrhundert den Status eines kulturellen Paradigmas. Dabei ist es vor allem dem Gang der Computertechnik und deren Fusion im World Wide Web geschuldet, dass diese Denkfigur Theorie und Praxis – von den Alltagswelten bis in die Bereiche entrückten Spezialistentums – maßgeblich umorientiert.

Auf derselben Ebene ragt außerdem der "Strom" hervor. Ihm gelingt es, kulturelle Bewegungsphänomene als Teil eines erdumfassenden Fließgeschehens verständlich zu machen.

Im "Raum der Ströme" (Manuel Castells) findet das fluide Moment der Moderne einen sinnbildlichen Ort, der vom "Netz" in dieser Weise nicht hätte gestiftet werden können. Hier tritt die eigentümliche ikonologische Konkurrenz zutage, die das Verhältnis von "Netzen" und "Strömen" als Weltformeln kennzeichnet.

Während der "Strom" geradezu exemplarisch für die ungehemmte Großbewegung steht, deren ursprüngliche Gewalt bei allen Anstrengungen letztlich nicht zu bändigen ist, figuriert das "Netz" ein Objekt, das – nach altbewährter Verwendungsweise – in die Verlaufsrichtung dieses Flusses widerständig eingesenkt ist und damit der Eigenschaft permanenter Veränderung entgegensteht.

Vor diesem Hintergrund gegensätzlicher Bildlogiken ist bemerkenswert, dass beide Ausdrücke heute nahezu beliebig austauschbar dazu dienen, anthropogene Strukturen und Prozesse nahezu jeglicher Größenordnungen zu veranschaulichen: Die brachialhumanisierte Welt des 21. Jahrhunderts wird uns als das wachsende Werk vielfältiger Vernetzungsagenten vorgestellt, und zugleich als jene weitschweifig und grenzenlos durchströmte Sphäre, in der Stillstand nur als Störfall gelten kann.

Indem der doppelte Rückgriff auf die Potentiale dieser Metaphern widerstreitende Entwürfe kombiniert ins Bild setzt, drängen sich die Fragen auf, wie diese Vereinbarkeit überhaupt zustande kommt und ob sie womöglich als Indiz dafür genommen werden kann, dass diese Leitmetaphern in ihrer ordnenden und orientierenden Funktion nicht doch vor dem versagen, was sie uns veranschaulichen und begreiflich machen sollen?

Ströme im Netz

Vermutlich hat diese Seltsamkeit sich im 19. Jahrhundert mit dem Ausbau technischer Infrastrukturen einzuschleichen begonnen. Jedenfalls kommt es in Zusammenhang mit der fortschreitenden industriellen Revolution zur Bildung eines erstaunlichen Ausdrucks: Das "Stromnetz" führt die konträren Elemente von Bewegung und Starre auf Wortebene zusammen.

Während im Kontext beginnender Elektrifizierung die sprachliche Verwendung des "Stromes" der Vorstellung einer fließenden Elektrizität geschuldet ist und damit der hergebrachten Semantik treu bleibt, erfährt das "Netz" eine entscheidende Neuerung: Neben den Aspekt der Mobilitätsunterbindung tritt das disparate Verständnis von einem Leitungssystem zur Verteilung von Elektrizität, Wasser oder Gas, später auch von Waren, Informationen und Menschen.

Die Metaphorik ändert ihre Referenz; das "Netz" wird von einer Art Falle zur konnektiven Prozessgestalt, die laufende Flüsse aufnimmt, um den Fortgang und die kontinuierliche Veränderung zu gewährleisten. Im "Stromnetz" sehen wir das Resultat von Verkehrung und Absorption: Hingen Netze einst im Strom, fließen Ströme nun im Netz.

Als Flechtwerk, Gewebe und Textur stehen Netze alten Typs in enger Verwandtschaft zu Instrumenten wie dem Sieb oder dem Filter. Ihre vorrangige Funktion ist die Selektion mittels kalkulierter Durchlässigkeit. Wenn heute große Teile unserer materiellen Einrichtungen – Versorgungsleitungen, Verkehrswege, Kommunikationskanäle – als "Netze" bezeichnet werden, dann sind es vornehmlich deren Formen, die die Verwendung jenes Sprachbildes noch immer plausibel machen.

Das heißt nicht, dass die Funktion als Fangwerkzeug und filternde Barriere gänzlich verschwunden wäre. Ein euphorischer Vernetzungsfuror, dem der Sinn für die tückische Ambivalenz dieser Gespinste bisweilen abhandengekommen war, scheint seine Hochphase allerdings hinter sich zu haben.

Vorbehalte artikulieren sich inzwischen nicht mehr vornehmlich in kritischen Kommentaren zur Internetkultur. Auch eine "Soziologie der Entnetzung" (Urs Stäheli) zeigt nunmehr gesteigertes Interesse an einem grundsätzlichen "Unbehagen am Netzwerken" sowie an "Praktiken der Entnetzung".