Bühnen, Netze, Ströme

Seite 3: Subversive Botanik

Gegenwärtige "Netze" werden in erster Linie als Garanten für flächige Beweglichkeit mit der Tendenz zur Synchronität aufgefasst. Zur entscheidenden Volte in die Tiefen der dritten Dimension ist eine florale Variation behilflich, verbunden mit einem heimlichen Bildwechsel vom planvollen "Weben" zum kopflosen "Wachsen".

Das "Rhizom" spannt eine labyrinthische Struktur auf, die klassische, sonnenzugewandte Ordnungen zersetzt und sich durch Prinzipien wie Vielheit, Konnektivität, Unstetigkeit, Dezentralität, Unschärfe und Heterogenität auszeichnet.

Was Gilles Deleuze und Félix Guattari in einer feixenden Enthauptungsphantasie als anticäsarischen Fließraum mit verschlungener Topologie skizzierten, war das rebellische Idealbild einer völligen Abkehr von Konzepten wie "Vertikalität" und "Genealogie". Die Proklamation der freien Zirkulation und der absoluten Bindungslosigkeit musste daher zum Sturmlauf gegen alte Bilder und damit verbundene Auffassungen geraten1:

Wir sind des Baumes müde. Wir dürfen nicht mehr an die Bäume glauben, an große und kleine Wurzeln, wir haben genug darunter gelitten. Die ganze Baumkultur ist auf ihnen errichtet, von der Biologie bis zur Linguistik. Nur unterirdische Sprößlinge und Luftwurzeln, Wildwuchs und das Rhizom sind schön, politisch und verlieben sich.

Gilles Deleuze, Félix Guattari, 1977

Der Überdruss am Entfaltungsprinzip aszendenter Linien deutete in den 1970er Jahren auf einen durchgreifenden Wandel der Orientierungspraxis hin. Es ging dabei nicht allein um ein neues Muster der Weltbeschreibung.

Die "Rhizomatik" bot vor allem ein metaphorisches Ordnungsmodell für moderne bzw. postmoderne Wissensorganisation und präsentierte sich damit als angemessenes Korrelat zu einer Wirklichkeit, die mehr als verflochtenes System denn als klare Gliederung fassbar war. Rund vier Jahrzehnte später findet diese Entwicklung auch bei Wolfram Hogrebe ihre generelle Bestätigung2:

Wenn man die erkenntnistheoretische Situation der Philosophie am Anfang des 21. Jahrhunderts aus der Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts bündig kennzeichnen will, wird man an der Konfession nicht vorbeikommen, daß die Architektur des Wissens keinem hierarchischen Design mehr folgen kann. […] Wir stehen, wenn man sich nichts vormacht, vor einem Wechsel der Bildlichkeit, an der wir uns orientieren: die Pyramide weicht dem Kontrolleur der Arbeiten vor Ort.

Noch bis tief ins 20. Jahrhundert war die Orientierung an der Pyramide wie selbstverständlich Leitbild eines axiomatischen Gesamtaufbaus z.B. der Mathematik. Dieses Pathos scheint heute vollständig verschwunden zu sein.

Wolfram Hogrebe, 2013

Maritimes Flair

Die sprachbildgestützte Weltauffassung treibt damit fort von den Bäumen, Bühnen und Sonnen, entlang untergründiger Wucherungen, hinein in die Verflüssigungszonen maritimer Bildfelder. Auch der flüchtige Blick auf diese Drift kommt an Peter Sloterdijk kaum vorbei, der mit seiner Vorstellung der gegenwärtigen Welt als "Mündungsgebiet" eine Bildlichkeit des Übergangs entwirft3:

In den Verästelungen und Biegungen des Delta-Universums werden die anarcho-fluidistischen Vorstellungen der Rhizom-Verfasser gegenstandslos. Alles fließt, indem alles stagniert. Ob sie in Jahrhunderten gewachsen sind oder gestern improvisiert wurden: die Einzelkulturen im Delta werden wahrnehmbar als mehr oder weniger träge Nebenflüsse, die kurz davor stehen, sich in den Ozean der homogenisiert-diversifizierten Weltzivilisation zu ergießen. Aufgrund des Übermaßes an Zuflüssen gerinnt der Ozean zu einer undurchdringlichen Mauer. Delta und Ozean sind ununterscheidbar geworden, Strom und stehendes Gewässer ein und dasselbe.

Peter Sloterdijk, 2014

Seine Monstrosität verdankt diese Komposition auch ihrem Spiel mit dem Widersinn. Bewegung und Stagnation, Grenze und Entgrenzung rücken zusammen, heben sich auf und führen die Szenerie als einstweilige Endgestalt vor.

Im letzten fluiden Exzess wechselt der Aggregatzustand zu umfassender Starre. Man ist allerdings gut beraten, sich vor der dynamischen Verführungskraft zu hüten, die das Aufgebot von Gewässersystematiken entfaltet. Denn den Tatsachen der Erfahrungswelt schwimmen wir mit dieser Bildgruppe mitunter rasch davon.

So hilfreich die Metapher als Zugriffsmittel und erzählerisches Element auch sein mag, die Sache selbst ist sie nicht. Es darf daher zweifelhaft bleiben, ob die heraufziehende Wirklichkeit in einem verlorenen Ozean jenseits aller Küstenlinien und ohne stabile Gestalten ein angemessenes Bild finden könnte.

Rückkehr zum Ufer

Über Karrieren von Ordnungsentwürfen, wie Sprachbilder sie darstellen, lassen sich schwerlich Prognosen erstellen. Welche es in Zukunft sein werden, die die Entlastungs- und Orientierungsbemühungen von Bevölkerungen stützen, die sich nervös, überreizt, müde, ängstlich und aggressiv am Leben halten, ist ganz unklar.

Eine solidere Bildsprache könnte neuen Auftrieb erhalten, wenn es künftig zu taxieren gilt, wie hoch der Preis für Auflösung und ungehemmtes Fließgeschehen in einer auch an Bedrohungen unüberschaubar vielfältigen Welt ist.

Es ist ein Spruch des Heraklit, der gern herangezogen wird, um den Vorrang des Bewegungsprinzips plausibel zu machen und vermeintliche Stabilitäten als Täuschungen zu entlarven. Denn dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, ist ein eingängiges wie überzeugendes Bild.

Die genauere Betrachtung dieser Metapher relativiert jedoch gerade den absoluten Anspruch, der mit ihrer rhetorischen Inszenierung erhoben wird. Denn auch das Fließen ist auf seinen Widerpart angewiesen. So mag der Strom, in den man abermals steigt, nicht derselbe sein,4

aber man kehrt an dasselbe Ufer zurück, und dies sogar dann, wenn man sich im Fluß, um mit ihm als demselben wenigstens für eine Zeit eins zu bleiben, hat treiben lassen. Ist man an das Ufer zurückgekehrt, ist es dasselbe, an welcher seiner Stellen auch immer. Da schert es einen nicht mehr, daß es nicht mehr derselbe Fluß ist, in den man ein weiteres Mal steigen würde.

Hans Blumenberg, 2012