Bürger oder Industrie – Wem wird in der Not zuerst das Gas abgedreht?

In Deutschland ist der Streit entbrannt, wer als erstes Verzicht üben soll, sollte russisches Gas nicht mehr fließen. Zu wählen ist zwischen kaltem Wasser und Massenarbeitslosigkeit.

Russland hat Polen und Bulgarien den Gashahn zugedreht – eine Warnung, auch an Deutschland: Die russische Regierung meint es ernst damit, "unfreundlichen" Staaten die eigenen Rohstoffe nur noch gegen Rubel abgeben zu wollen. In Berlin hat man verstanden und diskutiert nun, wem als erstes der Hahn zugedreht wird, sollte Russland nicht mehr liefern.

Bislang sollen Privathaushalte, Krankenhäuser und andere Einrichtungen, "die grundlegende soziale Dienste erbringen" bevorzugt bedient werden. So sieht es zumindest das Energiewirtschaftsgesetz vor. Doch dagegen regt sich nun Widerstand aus der Industrie.

"Die aktuelle Priorisierung der Gaslieferungen für private Haushalte vor der Industrie muss dringend überdacht werden", sagte am Mittwoch zum Beispiel der Vorstandschef des Sensorspezialisten Sick, Mats Gökstorp. Es müsse eine Balance gefunden werden, denn beide Bereiche hingen zu stark voneinander ab.

Ähnlich äußerte sich der Aufsichtsratsvorsitzende des Energieversorgers E.on, Karl-Ludwig Kley. Die Politik solle sehr ernsthaft darüber nachdenken, zuerst den Privaten das Gas abzudrehen und dann bei der Industrie. Schließlich hänge die gesamte Volkswirtschaft und damit auch die Einkommen der Menschen davon ab. Nur die "lebensnotwendige Infrastruktur" wie Krankenhäuser solle weiter beliefert werden.

Gegen diese Forderungen regt sich Widerstand. So warnte Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) davor, die privaten Haushalte vom Netz zu nehmen. Sie seien nicht nur gesetzlich geschützte Kunden, sie nicht mehr zu beliefern, "wäre auch mit Sicherheitsfragen verbunden", sagte er der Rheinischen Post. Man könnte aber "die Haushalte durch Auslobung von Prämien zum freiwilligen Energiesparen" bringen.

Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, lehnt die Forderung der Industrie ebenfalls ab. Er mahnte, die einzelnen Gruppen sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. "Trotzdem ist die Frage legitim und notwendig, was ich in einer Gasnotlage zuhause tun kann oder muss, um Gas, CO2 und Geld zu sparen, damit unser Land insgesamt gut durch die Krise kommt", sagte er. Das gelte gleichermaßen auch für die Industrie.

Auch Politiker verschiedener Parteien hatten die Forderungen der Industrie zurückgewiesen. Der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner sagte gegenüber Bild, solche Forderungen gingen gar nicht. "Die Wirtschaft muss für den Menschen da sein und nicht umgekehrt", so Stegner.

Der CDU-Energiepolitiker Andreas Jung sagte der Zeitung, es müsse noch einmal "sensibel diskutiert werden, wo welche Einsparungen vertretbar sind". Klar sei aber, dass niemand frieren solle und dass Privathaushalte besonderen Schutz bräuchten.

Sollte Gas rationiert werden müssen, dann hätte es erhebliche Auswirkungen auf zahlreiche Industrien. Am Freitag warnte Mercedes-Chef Ola Källenius vor einschneidenden Folgen. "Sollte es zu einem Gaslieferstopp kommen, würde das weite Teile der Wirtschaft betreffen", sagte er bei der Online-Hauptversammlung. Noch habe aber die Bundesnetzagentur dem Unternehmen nicht mitgeteilt, in welcher Weise es von Rationierung betroffen sein könnte.

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, warnte am Freitag vor hoher Arbeitslosigkeit, sollte der Gasfluss gestoppt werden. "Ein Gasembargo zu diesem Zeitpunkt wäre mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nicht aufzufangen", sagte er bei einem Treffen mit Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD).

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