Bürgerliche Totentänze

Beziehungstaten: Bei den ordentlichen Leuten wird zwar nicht völlig unsichtbar, aber doch seltsam leise gestorben

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Terror! Wahn! Leichen! Gewalt! Man muss schon froh sein, dass die VR-Technologie noch nicht so weit ist, sonst würde einem das Blut ja jeden Morgen vom Bildschirm auf den Schreibtisch schwappen. Es gibt aber Todesfälle, über die berichten die Medien in aller Regel gesittet: Es kommt halt drauf an, wer getötet hat und wer gestorben ist.

In der Nacht vom 9. auf den 10.4.2009 ermordeten der 18-jährige Andreas H. und sein 19-jähriger Freund Frederic B. in Eislingen die beiden Schwestern von Andreas H. und seine Eltern. Sie benutzten dazu Kleinkaliber-Pistolen, die sie im Oktober 2008 im Vereinsheim ihres Schützenvereins gestohlen hatten, zusammen mit 15 weiteren Pistolen und Gewehren und 1.700 Schuss Munition.

Am 23. Januar 2010 tötete Sabine W. in Plochingen ihren Mann Thomas W. mit dessen Sportwaffe vor den Augen der vier gemeinsamen Kinder. In der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 2011 erschoss ein 61-jähriger Zahnarzt aus Rheindahlen zuerst seine Frau und dann sich selbst mit einem Revolver. Am 6.3.2012 erschoss in Tübingen eine 49-jährige Frau ihren Mann, einen 63-jährigen Zahnarzt; sie floh danach, wurde aber bald darauf festgenommen. Am 19.06.2017 erschoss ein 44-jähriger Polizist aus Mannheim seinen 50 Jahre alten Bruder auf einem Campingplatz in Heidelberg. Die Tatwaffe war die Dienstwaffe des Polizisten.

Woche für Woche lassen sich solche Gewalttaten in der Presse finden. Sie sorgen kurz für Aufregung; teilweise gelangen sie in bundesweit ausgestrahlte Fernsehnachrichten, aber unterhalb einer gewissen Anzahl von Opfern gibt es weder Sondersendungen noch große Talkshows noch besorgte Politikergesichter bei der Bestattung der Opfer.

Ganz eigene Sprachregelungen

Das ist seltsam, denn über die Jahre kommen so ziemlich viele Tote zusammen. Selbst wenn man zum Beispiel die "großen Amokläufe" von Erfurt und Winnenden abzieht, ist doch die Anzahl der Menschen, die zwischen 1990 und 2017 mit Sportwaffen ermordet wurden, einigermaßen erschreckend.

Wie gesagt: die Karte verzeichnet nur Schusswaffen als Tatwerkzeuge, die auch als Sportwaffen genutzt wurden. Wenn gar nicht geschossen wird, sterben die Opfer und manchmal auch die Täter im bürgerlich-familiären Nahfeld noch einmal stiller. Es gibt ganz eigene Sprachregelungen für diese Art von Verbrechen: "Familiendrama", "Familientragödie", "Beziehungsdrama", "erweiterter Selbstmord" und dergleichen mehr. Fast hört es sich bei den Berichten von diesen Verbrechen an, als wären sie gar keine, als wären "normale" Verbrecher bei der Begehung ihrer Taten nicht auch in "emotionalen Ausnahmezuständen".

Überzeichnet könnte man sagen: All die "Familiendramen" in den deutschen Autos, in den Wohn- und Schlafzimmern sind die bürgerlichen Ehrenmorde für Menschen ohne Migrationshintergrund. Für den "kleinen Amoklauf" ist ein seltsames Verständnis reserviert, ein Schulterzucken über "Tragödien", die nun einmal vorkommen in der Welt. Die Opfer werden hingenommen wie die ca. 3000 jährlichen Verkehrstoten in Deutschland, wie die Opfer von Unfällen überhaupt.

Aber warum geschehen diese "Unfälle"? Was die Beziehungstaten angeht, schrieb die Berliner Morgenpost 2013:

Bei Beziehungstaten mit tödlichem Ausgang sind 80 Prozent der Täter Männer. Der mit Abstand häufigste Grund für eine Gewalttat ist das Nichtverkraften einer Trennung. Bei sehr vielen Taten und der vorangegangenen Entwicklung ist Alkohol im Spiel. Frauen werden in den meisten Fällen erst dann gewalttätig, wenn sie sich gegen einen gewalttätigen Partner wehren wollen und keine andere Möglichkeit mehr sehen.

Berliner Morgenpost

Und dann fällt ein seltsamer Begriff:

Für Mord unter Ehe- oder Lebenspartnern gibt es den Begriff Intimizid.

Berliner Morgenpost

Der Mord in der Beziehung also, dessen sprachliche Verniedlichung fast wie der Markenname eines Hygienesprays wirkt, als weiteres Beispiel für krasse Männergewalt in unserer Gesellschaft? Dann wären die Beispiele oben, in denen Frauen und Jugendliche geschossen haben, eher die Ausnahme. Andreas Marneros, der Psychiater, der den seltsamen Begriff erfunden hat, bestätigt dies.

Am Ende braucht es immer eine Waffe

Marneros spricht von narzisstischen Kränkungen, Affekten und antiken Vorbildern. Kein Wunder, das Seelenleben von anderen hat ihn ein Leben lang beschäftigt. Aber neben der Tatsache, dass in dem Reden von Gefühlen der Männerüberhang dann wieder genehm verschwindet, wird eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Stattfinden der "kleinen Amokläufe" überhaupt nicht erwähnt. Denn was immer an emotionalen Voraussetzungen vorgelegen haben mag: gescheiterte Ehen, Eifersucht, Erbstreitereien, manchmal anscheinend auch pure Langeweile - am Ende braucht es immer eine Waffe, mit der ein Mensch zu Tode gebracht wird. Bei den Fällen, die es immerhin in die Regionalblätter schaffen, ist das oft eine Schusswaffe.

Die Deutschen mokieren sich gern über Waffenverliebtheit der Amerikaner. Sie spotten über eine Nation, die in anderen Weltgegenden Kriege führt, um die "Sicherheit Amerikas" zu gewährleisten, aber an den 30000 Schusswaffentoten pro Jahr innerhalb der eigenen Grenzen nichts ändern kann oder will. Aber auch die Deutschen sind an bis an die Zähne bewaffnet. Von den Sportschützen und den dienstlich Bewaffneten war ja schon die Rede. Aber:

Deutschlandweit wurden laut Bundesverwaltungsamt rund 5,5 Millionen legale Schusswaffen von insgesamt 1,45 Millionen Waffenbesitzern bei den Behörden angemeldet. Bei den Schusswaffen handelt es sich in den allermeisten Fällen um scharfe Feuerwaffen, aber auch Luftdruck- oder Gaswaffen können in diese Kategorie fallen. Wie viele Waffen unangemeldet und illegal kursieren, ist unklar.

N-TV

Eine Menge Schießeisen in Deutschland für eine Menge "Tragödien".

Diese Tragödien scheinen von einer ganzen Anzahl von Nebelwänden umgeben zu sein. Da ist einmal die Berichterstattung in den Medien, die eine ganz eigene Sprache der Verharmlosung für sie erfunden hat.

Die Tatsache, dass man in Deutschland erstaunlich leicht an eine scharfe Schusswaffe kommt, wird noch seltener benannt als der Einfluss, den Alkohol auf diese Gewalttaten hat. Und auf die bloße Feststellung, dass in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle Männer die Täter sind, gibt es hauptsächlich drei verschiedene Reaktionen: Schweigen, Leugnung oder Aggression.

Wäre es nicht an der Zeit, diese Nebelwände aufzulösen? Vielleicht könnten ja ein paar Menschenleben gerettet werden.