Bulgarien: Das Coronavirus wählt mit
Regierungschef Borissov will mit Zick-Zack-Politik offenbar auch hartgesottene Gegner des Lockdowns für sich gewinnen. Kaum mehr inhaltliche Debatten
"Die Welt spricht über das bulgarische Modell beim Umgang mit der Krise, die Balance der bulgarischen Regierung zwischen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Menschen und dem Schutz von Arbeitsplätzen und der Wirtschaft", pries Bulgariens Außenministerin Ekaterina Sacharieva die Corona-Politik ihrer Regierung anlässlich der Wiedereröffnung von Gastronomie, Shopping Malls und Fitness-Studios zum Anfang dieses Monats.
Tatsächlich schienen die Bulgaren bereits in den ersten zwei Monaten dieses Jahres wie auf einer Insel der Glückseligen zu leben - inmitten des europäischen Lockdown-Meers. Zwar blieb ihnen das Speisen im Restaurant ebenso verwehrt wie der Einkaufsbummel in den großen Konsumpalästen oder der Muskelaufbau im Gym. Zum Zeitvertreib hatten sie aber Zugang zu allen möglichen Geschäften, konnten Galerien und Museen besuchen und sogar die ein oder andere Theateraufführung erleben.
Eltern von Kindergartenkindern und Grundschülern wussten ihre Zöglinge in der Obhut von Erziehern und Lehrern. Maskenträger waren im öffentlichen Raum unter freiem Himmel eine kleine Minderheit. Schien die Coronavirus-Pandemie auch nicht beendet und vergessen, so spielte sie im Bewusstsein der Bulgaren doch eine viel unbedeutendere Rolle als etwa bei den Deutschen.
Wenige Tage nach der Außenministerin lobte sich auch Gesundheitsminister Kostadin Angelov als umsichtiger Corona-Manager. "In Europa spricht man aus verschiedenen Gründen bereits vom Bulgarischen Modell. Unser Land hat die besten Resultate erzielt im Verhältnis von Erkrankung und Sterblichkeit und dabei viel leichtere Maßnahmen erlassen als die anderen Staaten", sagte er Anfang März in Varna.
Plötzlich machte in Bulgarien alles dicht
Doch nur eine gute Woche später pfiff sein Regierungschef Boiko Borissov zur Rolle rückwärts. Plötzlich erklärte er die Gesundheit der Bürger zum höchsten aller Güter. Postwendend erließ der Nationale Stab zur Bekämpfung der Corona-Pandemie die Schließung von Schulen, Kneipen, großen Geschäften, Fitnessstudios und Kultureinrichtungen bis zum Ende dieses Monats.
Zieht man primär quantitative Parameter als handlungsleitende Kriterien zum Umgang mit dem neuartigen Coronavirus heran, so entbehrt der abrupte Strategiewechsel der bulgarischen Regierung nicht einer gewissen Logik. Das Hinzukommen der Schnelltests hat die Zahl positiver Coronatests im Monatsverlauf in die Höhe schnellen lassen.
Sie erreichte am Mitte dieser Woche mit 4.851 mutmaßlichen Infektionen Rekordhöhe. Fast jeder Vierte der binnen vierundzwanzig Stunden gemachten 19.869 Tests erwies sich als positiv. Damit lag die Test-Positivrate zwar noch weit unter den am 8. Dezember 2020 ermittelten 44,15 Prozent.
Doch das Kabinett Borissov schien angesichts lauter werdenden Alarms über stark beanspruchte Intensivstationen in den Krankenhäusern und vermeintliche Covid-19-Todesfälle seinen lange praktizierten Laissez-Faire-Kurs für politisch nicht mehr opportun zu halten.
Ob aber die plötzliche Kursänderung nun ein Ausweis planloser Inkompetenz sei oder ein taktischer Zug im Hinblick auf die für den 4. April angesetzten Wahlen zur bulgarischen Volksversammlung? Zumindest darüber lässt sich trefflich streiten.
Kaum mehr inhaltliche Auseinandesetzungen
Dagegen sind im Wahlkampf inhaltliche Auseinandersetzungen über grundsätzliche Fragen etwa zur Wirtschafts- und Sozialpolitik oder zur Energiewirtschaft kaum zu vernehmen. Möglicherweise zielte Regierungschef Borissov mit seinem Kurswechsel ja darauf ab, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und außer Befürworter seines bisherigen moderaten Kurses in der Pandemie nun auch eingefleischte Lockdowner zur Stimmabgabe für seine Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (Gerb) zu gewinnen?
Vielleicht sah er in der Verhängung des Lockdowns aber auch einfach ein probates Mittel zur Erhöhung der Pandemiefurcht und damit zur Senkung der Wahlbeteiligung? Sollte sie niedrig ausfallen, da sind sich die politischen Beobachter in Bulgarien einig, wird seine über einen harten Sympathisantenkern verfügende Partei davon profitieren, werden die meisten Oppositionsparteien dagegen an Stimmen einbüßen.
Erinnert man sich daran zurück, wie viele Bulgaren im Sommer und Herbst 2020 allabendlich durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia gezogen sind, um den sofortigen Rücktritt von Borissovs konservativ-nationalistischer Koalitionsregierung zu fordern, so muss die Uninspiriertheit und Emotionslosigkeit des Wahlkampfs überraschen.
Auch hätte man vor einem halben Jahr noch nicht für möglich gehalten, was nun die Demoskopen zum Ausgang der Parlamentswahlen prophezeien. Mehr als einmal schien Borissovs politisches Schicksal während der monatelangen Massenproteste so gut wie besiegelt, nun sehen die Meinungsforschungsinstitute seine Partei erneut als stärkste politische Kraft in der 45. Bulgarischen Volksversammlung.
Proeuropäische Partei auf dem Vormarsch
Bei einer Umfrage unter 1.000 Wahlberechtigten in der Woche vom 11. bis 16. März ermittelte Sova Harris für die Partei Gerb einen voraussichtlichen Stimmenanteil von 30,7 Prozent, fast sieben Prozentpunkte mehr als für die post-kommunistische "Bulgarische Sozialistische Partei" (BSP).
Als besonders umstritten gilt das Rennen um Rang 3. Die erstmals bei Wahlen antretende Partei "Ima takev Narod" (So ein Volk gibt es) des im Land ebenso populären wie verhassten Popstars und Showmasters Slavi Trifonov könnte die Partei der bulgarischen Türken "Bewegung für Rechte und Freiheit (DPS) von ihrem angestammten Platz verdrängen.
Je nach Höhe der Wahlbeteiligung, die auch ein Gradmesser für die Furcht oder Nicht-Furcht der Bulgaren vor Ansteckung mit dem Coronavirus sein dürfte, könnten zwei oder drei kleinere Parteien ins Parlament einziehen, die entweder direkt aus den Protesten vom vergangenen Jahr hervorgegangen sind oder sich mit ihnen solidarisch zeigten.
Die dem traditionellen Milieu der urbanen Konservativen entspringende Koalition "Demokratisches Bulgarien" (DB) von Ex-Justizminister Hristo Ivanov und das Protestbündnis "Izpravi se Bulgaria - Mutri van" (frei übersetzt: Bring dich in Ordnung Bulgarien - Mafia raus) von Ex-Ombudsfrau Maja Manolova könnten bei einem Sprung über die Vier-Prozent-Hürde die inzwischen gespaltenen Nationalisten der Vereinigten Patrioten (VP) aus dem Parlament verdrängen. Dem bisher mit den Nationalisten koalierenden Borissov dürfte dies im Falle seines Wahlsiegs das Regieren deutlich erschweren.
Der frühere Leibwächter des Ex-Zaren Simeon Sakskoburggotski und des Ex-Kommunistenführers Todor Schivkov Boiko Borissov hat seit dem Oktober 2005 alle Wahlen gewonnen, mit der einen Ausnahme der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016. Er polarisiert die bulgarische Öffentlichkeit mit sprunghaftem Pragmatismus und charmanter Bauernschläue.
Schimpfen ihn Links- und Rechtsintellektuelle einen Mafioten und Autokraten, so sehen in ihm offenbar noch immer viele vor allem aus der Provinz stammende Bulgaren den Mann des Volkes.
Während seiner mit Unterbrechungen fast zwölf Jahre andauernden Regentschaft hat er mit der Omnipräsenz seiner Persönlichkeit inhaltliche Auseinandersetzungen über politische Grundsatzfragen im Keim erstickt. So stark und laut in der zweiten Jahreshälfte 2020 der Ruf nach radikaler Veränderung durch Sofias Straßen hallte, so zerknirscht und kleinlaut könnte am Morgen nach der Wahl die öffentliche Verständigung über das unendliche Weiter So in der Politik des Balkanlandes geführt werden.
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