Bulgarischer Sommer: Volksfront zur Rückeroberung des gekaperten Staates

Tägliche Massenproteste gegen die Regierung in Sofia. Bild: Frank Stier

Massenproteste wollen die Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissov stürzen

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"Warten wir den Europäischen Rat ab, dann reden wir weiter", sprach Bulgariens bedrückt wirkender Ministerpräsident Boiko Borissov am Mittwochmorgen während der Kabinettssitzung in die Kameras. Am kommenden Wochenende wolle er in Brüssel noch "Geld für Bulgarien verteidigen", dann werde man weitersehen. Seit einer Woche wächst der Protest auf den Straßen Sofias und anderer bulgarischer Städte gegen ihn rasant, mehrfach hat Borissov einen Rücktritt seiner Regierung aber kategorisch ausgeschlossen.

Am Samstagabend wandte er sich via Facebook aus seinem Haus in Bankia an die Bulgaren und zog eine positive Bilanz seiner Amtstätigkeit. "In zehn Jahren haben wir doppelt so viele Autobahnen gebaut wie Todor Schivkov", sagte er, "wir haben mehr errichtet als alle bisherigen Ministerpräsidenten zusammen. Und während der Pandemie wurden wir als Beispiel in Europa gelobt, weil wir sie am besten bewältigt haben.. Auch habe die Europäische Union (EU) Bulgarien endlich in den Euro-Wartraum ERM II aufgenommen, lobte sich Borissov.

Seine von Zweifel geprägten Worte am Mittwochmorgen im Kreise seiner Minister schienen ein Umdenken anzudeuten. Dass der mit Unterbrechungen seit dem Sommer 2009 das Balkanland regierende Borissov auch seine dritte Amtszeit vorzeitig beenden wird, ist nicht mehr ausgeschlossen. Das Paradoxe an der Situation ist allerdings, dass der Führer der rechtsgerichteten Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung "Bulgariens (GERB) Meinungsumfragen zufolge noch immer einer der Politiker mit den größten Zustimmungswerten ist, weit vor seiner Herausforderin Kornelia Ninova von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP).

Borissov könnte also einmal mehr auch das politische Kalkül verfolgen, durch seinen Rücktritt dem gesellschaftlichen Druck den Wind aus den Segeln zu nehmen, um sich nach einer mehrmonatigen Übergangsregierung bei vorgezogenen Parlamentswahlen den Sieg und damit eine vierte Amtszeit zu holen. Die einen radikalen Wandel des politischen Systems anstrebende Protestbewegung, die sowohl Linke als auch Konservative in ihren Reihen hat, würde einmal mehr ins Leere laufen.

Alles begann mit Hristo Ivanovs abenteurlicher Seefahrt

Am Dienstagnachmittag des 7. Juli 2020 stieß Bulgariens früherer Justizminister von der Schwarzmeerstadt Burgas aus mit einem motorgetriebenen Schlauchboot in See. Zusammen mit zwei Parteifreunden wollte der jetzige Co-Vorsitzende der konservativen Partei "Da Bulgaria" (Ja, Bulgarien) auf der Halbinsel Rosenets anlegen. Dass dies kein einfacher Landgang werden würde, ahnte er bereits. Vorsichtshalber filmte er ihn und übertrug ihn live und in Farbe im Internet. Tausende Zuschauer verfolgten ihn gebannt. "Was ihr hinter mir seht", sprach Ivanov in die Kamera und deutete auf ein palastartiges Gebäude, "ist das Sommer-Serail von Ahmed Dogan. Da fahren wir jetzt hin und nehmen uns unser von der Verfassung gegebenes Recht, dieses bulgarische Stückchen Erde zu betreten."

Der Gründer und jetzige Ehrenvorsitzende der Partei der bulgarischen Türken "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS) ist seit Jahrzehnten eine der schillerndsten Figuren auf Bulgariens politischer Bühne. Seine Anhänger sprechen ihm das Verdienst zu, den ethnischen Frieden zwischen der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung und der türkischen Minderheit bewahrt zu haben, als es im früheren Jugoslawien zum grausamen Bürgerkrieg kam. Dogans Kritiker werfen ihm dagegen vor, Mitte der 1980er der kommunistischen Staatssicherheit zugetragen zu haben. Vor einigen Jahren hat sich der studierte Philosoph Dogan aus der aktiven Politik zurückgezogen, um sich wissenschaftlichen Studien zu widmen. Insgeheim gilt er aber immer noch als der eigentlich starke Mann der DPS, der politischen Einfluss in wirtschaftliche Macht umzumünzen weiß.

Hristo Ivanov. Bild: Frank Stier

Dass ihn die Beamten des Nationalen Wachdiensts (NSO) noch immer auf Kosten der Steuerzahler bewachen, wird in der bulgarischen Öffentlichkeit immer wieder kontrovers diskutiert. In Hristo Ivanovs gut fünfzigminütigem Live-Video ist zu sehen, wie entschlossen die NSO-Wachmänner Dogans kitischiges Sommerschlösschen vor ungebetenen Gästen schützen und normalbsterblichen Bulgaren den Zugang zum in staatlichem Besitz befindlichen Ufer des Parks Rosenets verwehren. Hartnäckig drängt Dogans Wache den Ex-Minister und seinen Parteifreund Ivo Mirchev vom Land immer wieder ins Meer zurück. Die herbeigerufenen Schutzpolizisten nehmen zwar die Personalien von Ivanov und Mirchev auf, nicht aber die der unrechtmäßig Gewalt anwendenden Wachmänner.

Bei einer für den darauffolgenden Samstag angesetzten Massenwanderung wäre es im Park Rosenets fast zu ethnischen Zusammenstößen zwischen hunderten Demonstranten und nochmal so vielen Dogan-Anhängern gekommen. Die Videos von Hristo Ivanovs Seefahrt und der samstäglichen Massenwanderung im Park Rosenets dokumentieren eindrücklich, wie die bulgarische Oligarchie politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Sphären des Balkanlandes gekapert hat.

Ivanovs Landgang in Rosenets war mehr als eine effektvolle politische Provokation, er gab die Initialzündung für eine Protestbewegung, die Borissovs konservativ-nationalistische Koalitionsregierung ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte. Wie zuletzt im Sommer 2013 bei den Protesten gegen die sozialistische Regierung von Plamen Orescharski skandieren nun wieder Abend für Abend tausende Demonstranten unter dem Fenster des Ministerrats "Mafia ven!" (Mafia raus!) und "Ostavka!" (Rücktritt!).

Präsident schlägt sich auf die Seite der Protestierenden

Auch der den Sozialisten nahestehende Präsident Radev hat sich inzwischen in unerhörter Art auf die Seite der Anti-Regierungsproteste geschlagen. Nachdem am vergangenen Donnerstag Beamte der Staatsanwaltschaft in das Staatspräsidium eingedrungen waren, um Dokumente zu konfiszieren und zwei seiner Mitarbeiter zu verhaften, trat das Staatsoberhaupt mit erhobener Faust vor seine versammelten Anhänger und sprach:

Die bulgarische Mafia hat das Unmögliche erreicht. Sie hat die ehrhaften Leute gegen sich vereinigt. An uns allen liegt es, die Mafia aus der Regierung zu werfen und aus der Staatsanwaltschaft, die sie auf erbarmungsloseste Weise als ihren Schutzschild und für politische Repressionen benutzt. Die bulgarische Mafia ist erbarmungslos, weil wir sie ziemlich lange geduldet haben. Heute tritt der Zorn auf die Straße. Nein, der Angst! Wir werden Bulgarien zurückbekommen. Mutri (bulg. für Schläger) raus!

Radev

Dass es seine Kritiker für ein Staatsoberhaupt mit repräsentativen Funktion für unangemessen halten, sich derart politisch zu exponieren, schert Radev wenig, Seit längerem profiliert er sich als Borissovs politischer Widersacher. Damit ist er keineswegs der einzige. Seit Monaten bombardiert der in Ungnade gefallene Glücksspielmagnat Vasil Boschkov die bulgarische Öffentlichkeit mit Kompromaten, die Borissovs Regierung der Korruption überführen sollen. Im Januar 2020 war der Reichste der Bulgaren, genannt auch Tscherepa (der Schädel), von der Regierung per Gesetz quasi enteignet worden und anschließend nach Dubai geflohen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm eine lange Liste unterschiedlichster Vergehen vor, von Steuerhinterziehung über Auftragsmorde bis hin zu Vergewaltigung.

Bild: Frank Stier

Geleakte Bilder und abgehörte Telefonate

Bis heute konnten die Ermittlungsbehörden aber nicht aufklären, ob Boschkov auch der Auftraggeber für die Mitte Juni 2020 veröffentlichten Abhöraufnahmen und Fotografien ist, die Regierungschef Borissov in äußerstes Zwielicht rückten (Simple Wahrheit oder Deep Fake). In dem abgehörten Telefonat zieht ein Mann mit seiner Stimme und Intonation unflätig über Parlamentspräsidentin Tsveta Karajantscheva und europäische Spitzenpolitiker her und bekennt, in die Befugnisse der formell unabhängigen Finanzkontrollbehörde einzugreifen, um einen Unternehmer "zu zerquetschen".

Die geleakten Fotografien aus Borissovs Schlafzimmer zeigen eine Pistole auf seinem Nachttisch und eine Schublade voller Bündel mit 500 €-Scheinen und Goldbarren. Die Authentizität der Abhöraufnahme und der Fotografien ist strittig. Borissovs Erklärung aber, Staatspräsident Rumen Radev habe ihn "mit einer von den Chinesen geschenkten Drohne ausspioniert", war nicht geeignet, das Vertrauen in ihn zu stärken.

Am vergangenen Dienstag hat Bulgariens Generalstaatsanwalt Ivan Geschev Abhöraufnahmen von Telefonaten Tscherepas mit Journalisten und Abgeordneten veröffentlicht. Nach Ansicht des Obersten Anklägers belegen sie, dass "der Schädel" die Protestbewegung finanziert und steuert. Seinerseits behauptet Boschkov, er habe Borissov und Finanzminister Vladislav Goranov regelmäßig mit 500 €-Scheinen versorgt, um das normale Funktionieren seines Geschäfts zu gewährleisten.

Die Veröffentlichung der Aufnahmen wird die Protestierenden kaum davon abbringen, auf die Straße zu gehen und den Sturz des Kabinetts Borissov und den Rücktritt von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev zu fordern. Bulgariens Oberster Ankläger macht eher gemeinsame Sache mit der Mafia, als dass er sie bekämpft, glauben sie. Inzwischen schwappt der Aufruhr gegen Bulgariens herrschende Klasse in europäische Metropolen über, auch nach Berlin.

Ob die Parlamentswahlen nun vorgezogen im Herbst 2020 stattfinden oder regulär im März 2021, dem bulgarischen Stimmbürger werden zahlreiche neue Parteien zur Wahl stehen. Vasil Boschkov hat angekündigt, mit seiner neuen Partei mit dem Namen "Bulgarischer Sommer" die "herrschende Junta" zu stürzen. Außer der früheren Ombudsfrau Maja Manolova und dem populären Showmaster Slavi Trifonov will zudem der frühere Innenminister und langjährige Stellvertreter Borissovs im GERB-Partvorsitz Tsvetan Tsvetanov mit einer eigenen Partei zur Wahl antreten. Ob all die neuen politischen Formationen Bulgariens sklerotisches Parteiensystem aus Gerberisten, Sozialisten, Türken und Nationalisten aber kurieren können, bleibt ungewiss.