Bulgarien nach dem EU-Ratsvorsitz

Hungerstreik des prominenten Dissidenten Nikolai Kolev a.k.a. Bossia. Bild: F. Stier

Nach außenpolitischem Höhenflug versinkt das Balkanland wieder in den Niederungen hausgemachter Probleme

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"Unsere erste EU-Ratspräsidentschaft hat unsere europäische Identität auf die Probe gestellt - wir haben Verantwortung gezeigt und Professionalismus in unserer Arbeit für die europäsche Sache", lobte Ministerpräsident Boiko Borissov sich und seine Regierung für Bulgariens EU-Ratsvorsitz in der ersten Jahreshälfte. Er war geprägt von außenpolitischen Initiativen. Beim EU-Türkei-Gipfel Ende März 2018 wurde der türkische Staatspräsident Recep Erdogan beschworen, das Flüchtlingsabkommen mit der EU weiter einzuhalten. Beim EU-Westbalkangipfel im Mai 2018 wurden den sechs Westbalkanländern ihre "europäische Perspektive" bekräftigt. Bulgariens gesellschaftliche Probleme, Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die bedenkliche Situation der Medien im Land standen nicht auf der politischen Agenda. Sie aber sind hauptursächlich für das schlechte Image des Balkanlands im westlichen Europa.

Zwei aktuelle Entwicklungen der vergangenen Monate, der Hungerstreik des prominenten Dissidenten Nikolai Kolev a.k.a. Bossia und die spektakuläre Verhaftung der Bürgermeisterin des Sofioter Bezirks Mladost (Jugend) Desislava Ivantscheva, veranschaulichen, warum Bulgarien sowohl beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International (TI) als auch in der Pressefreiheitsrangliste von Reporter ohne Grenzen (RoG) am schlechtesten von allen EU-platziert ist.

Im kleinen Park vor dem Abgeordneteneingang der Bulgarischen Volksversammlung steht ein Zelt mit militarischer Tarnung. An seinem Eingang sitzt ein Skelett in einem Rollstuhl, es träg ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißer Schrift geschrieben steht: "Das System tötet uns." Seit Anfang Juni 2018 campieren hier Mütter behinderter Kinder, um ihre Volksvertreter Tag für Tag mit ihrer Forderung nach einem neuen Gesetz für die persönliche Hilfe für behinderte Menschen zu konfrontieren. Nur ein solches Gesetz, so glauben sie, kann erreichen, dass die Behinderten endlich in die bulgarische Gesellschaft integriert werden und ein menschwürdiges aktives Leben führen können.

Protestcamp. Bild: F. Stier

Einen Steinwurf entfernt sitzt der graubärtige Poet und Journalist Nikolai Kolev a.k.a. Bossia (der Barfüßige) in einem Rollstuhl, umringt von einem Dutzend Polizisten, Unterstützern und Journalisten. Er hat ein Schild um den Hals, auf dem geschrieben steht: "Unbefristeter Hungerstreik - 1. Sofortiger Rücktritt Ivailo Moskovskis (Transportminister / A. d. A.) für die von ihm organisierten verbrecherischen Gruppierungen. 2. Sofortige Auflösung der verbrecherischen Volksversammlung Bulgariens."

Kolev, der "Barfüßige"

Nikolai Kolev gehört zu Bulgariens prominenten Dissidenten. Die kommunistische Staatssicherheit hat ihm einst den Aliasnamen "der Barfüßige" verliehen. "Staatsfeindliche Umtriebe" brachten ihn in den 1980er Jahren mehrfach ins Gefängnis. 1989 erreichte er durch einen vierunddreißig tägigen Hungerstreik seine Freilassung. Seit Jahren protestiert Bossia nun auch mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen Korruption in der staatlichen Automobil Administration (AA). Des Öfteren bewarf er das bulgarische Parlament mit Tomaten und Eiern.

Mit seinen Aktionen unterstützt er den Inspekteur im Transportministerium Ivo Krastev, der bereits seit dem Jahr 2010 die Bulgaren, die Medien des Landes, die politische Elite, den Generalstaatsanwalt und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Institutionen der Europäischen Union (EU) darüber alarmiert, dass AA-Beamte Führerscheine gegen Geld verkaufen, auch an Menschen, die gar nicht lesen und schreiben können, und an Ausländer, die des Bulgarischen gar nicht mächtig sind.

"Der illegale Handel mit Führerscheinen ist mit dafür ursächlich, dass Bulgarien im EU-Vergleich die höchste Unfallsterblichkeit im Straßenverkehr hat", sagt Bossia. Er hält dies nicht nur für ein bulgarisches Problem, auch auf westeuropäischen Straßen seien Chauffeure mit bulgarischen Führerscheinen und ohne Kenntnis von Verkehrszeichen unterwegs, sie könnten auch in Deutschland tödliche Unfälle verursachen.

Viermal ist Ivo Krastev in Anerkennung seiner Whistleblower-Tätigkeit entlassen worden, fünfmal hat ihn das Gericht wieder in Stellung gebracht. "Ein Transportminister und Dutzende Angestellte der AA sind aufgrund meiner Signale entlassen und zum Teil inhaftiert worden", erzählt Krastev, allerdings seien viele von ihnen nach Abflauen der öffentlichen Aufmerksamkeit klammheimlich freigelassen und wieder eingestellt worden. Bis heute laufe das korrupte Schema weiter wie geschmiert und fülle die Parteikassen der jeweils Regierenden.

Noch vor dem Sturz des kommunistischen Regimes in der Volksrepublik Bulgarien engagierte sich Nikolai Kolev-Bossia in einer Menschenrechtsgruppe, gehörte auch zu den Mitbegründern von Bulgariens erster freier Gewerkschaft Podkrepa (Unterstützung). In den turbulenten 1990er Jahren war er einer der Köpfe der Union Demokratischer Kräfte (SDS), indes ohne je ein politisches Amt zu bekleiden. "Man hat mir Pöstchen angetragen, ich habe aber immer abgelehnt, weil ich meine persönliche Unabhängigkeit nicht verlieren wollte", sagt er.

Vergebens appellieren seine Freunde nun, er solle seinen inzwischen einen Monat andauernden Hungerstreik beenden, um seine Gesundheit nicht zu gefährden. Bossia aber will ihn notfalls bis zum Ende führen. "Ich bin körperlich natürlich geschwächt", sagt er, "mein Geist aber ist rege. Der Körper ist sowieso nur das Taxi des Geistes."

Fall Ivantscheva: Staatliche Inszenierung zur Eliminierung einer unbequemen Person?

Viele von Bossias Unterstützer machen sich auch für die seit Mitte April 2018 in Untersuchungshaft sitzende Bürgermeisterin des Sofioter Bezirks Mladost, Desislava Ivantscheva, stark. Sie wurde am 17. April 2018 zusammen mit ihrer Stellvertreterin Biljana Petrova unter dem Verdacht der Bestechlichkeit verhaftet. Ivantscheva soll von dem Bauunternehmer Alexander Waklin 500.000 € verlangt haben, um seine Investitionsprojekte im Bezirk nicht zu blockieren. Bei der Verhaftung Ivantschevas wollen die Polizeibeamte 70.000 € gefunden haben, die zuvor mit chemischen Mitteln präpariert wurden.

Viele glauben aber an Ivantschevas Unschuld und eine staatliche Inszenierung zur Eliminierung einer unbequemen Person. Sie sehen diesen Verdacht erhärtet durch die spektakuläre Art von Ivantschevas Verhaftung, ihre für Bulgarien außergewöhlich lange Untersuchungshaft sowie zahlreiche Widersprüche in den Aussagen der Ermittlungsbehörden zu gesammelten Beweismitteln.

Im Jahre 2016 wurde Desislava Ivantscheva als führende Aktivistin einer Protestbewegung gegen die Verbauung verbliebener Freiflächen in Sofias Plattenbaubezirk Mladost bekannt. Im selben Jahr verhalf ihr ihre Popularität als parteiunabhängiger Kandidatin zur Wahl zur Bezirksbürgermeisterin von Mladost. Bei ihrer Verhaftung ließen die Polizeibeamten und Staatsanwälte sie zusammen mit ihrer Stellvertreterin im Zentrum Sofias fünf Stunden in Handschellen auf offener Straße vor den neugierigen Blicken der Passanten stehen.

"Wir haben entsprechend des Strafgesetzbuches gehandelt", rechtfertigt der zuständige Staatsanwalt Ilian Rangelov dieses öffentliche Empörung erregende Vorgehen. Die Durchsuchung von Ivantschevas Fahrzeug und die Registrierung der sichergestellten Banknoten hätten im Beisein der verdächtigen Personen vorgenommen werden müssen. Dies habe nunmal Zeit in Anspruch genommen.

Anträge der beiden Frauen auf Haftverschonung aufgrund ihrer angeschlagenen Gesundheit hat das Gericht mehrfach abgelehnt. Die Beschuldigten könnten sich der Strafverfolgung entziehen oder die weiteren Ermittlung durch Beeinflussung von Zeugen erschweren, lautete die Begründung. "Wir sind psychisch angeschlagen", sagte Invantscheva bei ihrem letzten Erscheinen vor Gericht Anfang Juli 2018 zu Journalisten, "man gibt uns rosarote Pillen."

Dr. Peter Kardschilov hat für Bürgermeisterin Ivantscheva als PR-Experte im Bezirksamt Mladost gearbeitet, er gehört der Führung der bulgarischen Grünen an. Wie viele Sympathisanten ist er von Desislava Ivantschevas Unschuld überzeugt. "Sie ist die einzige parteiunabhängige Bürgermeisterin in Sofia und hat sich den Profitinteressen von Baulöwen in den Weg gestellt", sagt er. Die Anschuldigungen gegen Ivantscheva beruhen seiner Ansicht nach auf Falschaussagen der Zeugen der Staatsanwaltschaft und Indizien ohne Beweiskraft. "Den uns bisher bekanntgewordenen Abhöraufnahmen haben wir nur eine Verschwörung der Zeugen der Staatsanwaltschaft gegen Ivantscheva und Petrova entnommen, nicht aber ihr Verbrechen", sagt Kardschilov. "Die Beweismittel der Anklage werden fallen wie Dominosteine", erwartet er.

Viele bulgarische Medien haben Bossias Hungerstreik wochenlang ignoriert, zum Fall Ivantscheva publizieren der Regierung nahestehende Zeitungen Vorverurteilungen: "Die Grünen lügen zur Verteidigung von Ivantscheva", titelte etwa die Tageszeitung Trud.

Dass spektakuläre Verhaftungen und schwerwiegende Anklagen ergebnislos im Sande verlaufen, ist in Bulgarien keine Seltenheit, rechtskräftige Verurteilungen von Politikern wegen Korruption gibt es kaum. Häufiger dagegen sind Beispiele für Fälle, in denen unbequemen oder missliebigen Personen durch öffentliche Beschuldigungen und jahrelange Justizverfahren das Leben und die Karriere zerrüttet wurden, um sie kaltzustellen.