Bundestagsfraktionen klammern sich an Direktmandate

Bild: Deutscher Bundestag/Achim Melde

"Lokalkolorit" nannte Telepolis-Autor Peter Grassmann die Direktmandate - und forderte ihre Abschaffung. Abgeordnete halten wenig davon. Hier ihre Argumente

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Mit der nahenden Bundestagswahl Ende Oktober kommenden Jahres brandet auch wieder die Debatte um eine Verkleinerung des aktuellen Mega-Parlaments auf. Eine Lösung ist aber nicht in Sicht. Zu sehr ist das komplexe deutsche Wahlsystem aus Listen- und Direktwahl sowie Überhangsmandaten zu einem Garanten für gut dotierte politische Posten mutiert.

Verständlich, dass diejenigen, die von den überborden Mandaten profitieren, an einer Begrenzung kein Interesse haben. Dabei ist der Bundestag mit seinen ursprünglich 598 Mandaten schon jetzt auf 709 Sitze angewachsen - und damit das weltweit zweigrößte Parlament, übertroffen nur vom chinesischen Volkskongress. Setzt sich die bisherige Expansion fort, könnten demnächst 800 Abgeordnete im schon jetzt überquellenden Plenarsaal des Reichstagsgebäudes sitzen.

Mitte Juli machte der ehemalige Top-Manager, Aktivist und Buchautor Peter Grassmann in einem Telepolis-Beitrag daher einen bisher wenig diskutierten Vorschlag (Der hohe Preis der Direktmandate): die Abschaffung der an die Wahlkreise gebundenen Direktmandate. "Denn der dadurch übergroße Bundestag kostet Millionen - und er wirft auch die Frage auf, ob solcher Lokalkolorit im Sinne des Grundgesetzes ist", so Grassmann.

Das lokal verankerte Direktmandat nämlich passe nicht zum Auftrag des Grundgesetzes, nach dem jeder Abgeordnete "dem ganzen Volke verpflichtet" sei. "Schließlich ist es der normale Egoismus, dass ein nur von einigen Landkreisen gewählter Abgeordneter primär lokal denkt, sowohl bei Gesetzesvorlagen wie auch bei den vielen Infrastrukturaufgaben, die die Bundesregierung zu steuern hat", so sein Argument. Kurzum: Das Direktmandat fördere den Egoismus, das lokale Denken - "und genau das ist es nicht, was gute Parlamentsarbeit auf Bundesebene und auch in Europa braucht".

Um Persönlichkeiten in die Parlamente zu bringen schlug Grassmann das sogenannte Panaschieren vor, die Wahl von Personen, die man im Parlament sehen will. Sie rutschen dadurch in der Reihenfolge der Kandidaten der Wahlliste ihrer Partei nach vorne.

Telepolis hat nach dem hitzig diskutierten Vorschlag die Fraktionen im Bundestag gefragt, was sie von einer Abschaffung der Direktmandate und Alternativen wie dem Panaschieren halten. Die SPD sah urlaubsbedingt keine Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Die Freien Demokraten antworteten gar nicht. Hier nun die Stellungnahmen von CDU sowie den drei Oppositionsfraktionen AfD, Linke und Grüne.

Ansgar Heveling (CDU): "Bedeutung der Direktmandate für Demokratie berücksichtigen"

"Ich finde, dass das Wahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parlament ist. Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle, die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibel umzugehen.

Mit uns kann es aber nur eine Lösung geben, welche die Bedeutung der Direktmandate für unsere Demokratie angemessen berücksichtigt. Wir finden, dass der Vorschlag der Opposition (https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/146/1914672.pdf), der eine starke Reduzierung um 50 Wahlkreise vorsieht, dem eindeutig nicht gerecht wird.

Der Vorschlag, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, ist vielleicht gut gemeint, wäre aber eine Verschlimmbesserung. Denn die Direktwahlkreise in unserem Land sind ein ganz entscheidendes Bindeglied zwischen Bürger und Bundestag. Die Direktwahlkreise sind das Fundament für die Akzeptanz und Bürgernähe unserer Politik. Eine Verringerung der Zahl der Direktwahlkreise würde zu weniger Bürgernähe führen.

Besser hätte ich es nicht ausdrücken können - ist aber nicht von mir. Kollege Ruppert hat das hier im Deutschen Bundestag am 30. Juni 2011 gesagt. (Anmerkung: Tatsächlich stammt das Zitat von Günter Krings, CDU/CSU, und nicht vom ehemaligen FDP-Abgeordneten Stefan Ruppert)

Auch zum zweiten Element des Vorschlags der Opposition, zur Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten, darf ich zitieren:

Dann müssten die Überhangmandate, die zum Beispiel in Baden-Württemberg entstehen könnten, dadurch kompensiert werden, dass man bereits gewonnene Listenmandate in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg oder anderswo abzieht. Das ist keine gerechte Lösung. Das ist eine grob ungerechte Lösung, gerade für die Länder, die in der Regel keine Überhangmandate erhalten. Das ist eine föderalismusfeindliche Lösung. Die Länder werden doppelt bestraft: Sie erhalten keine Überhangmandate, und beim Ausgleich müssen sie für die anderen auch noch sozusagen die Kompensation leisten.

Zugleich ist der Vorschlag bürgerfeindlich; denn er führt auch zu einer schlechteren Repräsentanz der Einwohner dieser Länder."

(Die Stellungnahme von Ansgar Heveling stammt aus einer Rede vom 29.01.2020 zur Wahlrechtsreform, die die Unionsfraktion Telepolis zukommen ließ.)

Albrecht Glaser (AfD): "Persönlichkeiten mit direkter Verankerung in der Bevölkerung"

"Der Direktwahl in Wahlkreisen liegt die Idee zugrunde, das Leitprinzip der Verhältniswahl zu 'personalisieren'. Es sollen nicht nur Parteien bzw. politische Richtungen gewählt werden können, sondern auch Persönlichkeiten mit eigenem Kopf und einer direkten Verankerung in der Bevölkerung. Diesen Strukturgedanken halten wir für richtig. Die jetzige Lösung ist allerdings schon immer handwerklich unzulänglich. Der größte Fehler dabei ist, die Erringung des Direktmandats durch eine lediglich relative Mehrheit zu ermöglichen.

Die vielfach in der Politikwissenschaft angestellte Überlegung und die Fantasie der Praktiker, der 'Eierkopf' kommt auf die Liste und der 'Volkstribun' wird im Wahlkreis aufgestellt und auf diese Weise fänden beide Typen, die man im Parlament brauche, den Weg dorthin, hat in der Wirklichkeit kaum Bedeutung. Die tatsächlichen Auswahlmechanismen für beide Arten von Bewerbern innerhalb der Parteien finden nach völlig anderen Kriterien statt und sind vielfach vergleichsweise irrational.

Mit Ihrer Frage nach dem 'Panaschieren' ist wohl eher das 'Kumulieren' gemeint. Der Stimmengewinn aus unterschiedlichen politischen Lagern, der eigentliche Kern des Panaschierens, ist beim Direktmandat derzeit durch die Erststimme leicht möglich und geübte Praxis. Dies ist übrigens einer der Gründe für die Entstehung von Überhangmandaten. Insofern wäre die Möglichkeit, jedem Wähler mehrere Zweitstimmen zu geben, die er allerdings nur innerhalb eines Wahlvorschlags vergeben darf, das Kumulieren, keine Substitut für das Aufgeben von Direktmandaten. Eine solche Kumulationsmöglichkeit, wie von der AfD gefordert, wäre jedoch eine weitere Stärkung des Persönlichkeitselements innerhalb der Verhältniswahl und damit eine Stärkung von 'Charakteren' gegenüber 'Parteisoldaten'. Profilierte integrative Persönlichkeiten in allen Parteien würden gegenüber den 'Abstimmungsmaschinen' der Parteitage gestärkt."

Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): "Abschaffung der Direktmandate keine realistische Option"

"Beim Wahlrecht war es bisher üblich, dass Änderungen desselben stets von einer großen Mehrheit des Bundestages getragen werden. Diese Maßgabe halte ich nach wie vor für sinnvoll, da hiermit für eine große Akzeptanz in der Bevölkerung gesorgt werden kann. Der von uns LINKEN, der FDP und den Grünen eingebrachte Wahlrechtsvorschlag könnte von einer deutlich größeren Mehrheit der Fraktionen getragen werden als eine Abschaffung der Direktmandate und daher stellt aktuell eine solche Überlegung aus meiner Sicht keine realistische Option dar.

In einem System ohne Direktmandate wäre die Möglichkeit zum Panaschieren sicher ein denkbarer Weg, um Persönlichkeiten mehr Raum zu geben. Im aktuellen System halte ich es für keinen guten Ansatz, da der Fokus noch weiter auf Personen verschoben würde, was zu Lasten der Inhalte ginge. Dass Kompetenz bei parteiinternen Listenaufstellungen eine größere Rolle spielen würde, als beim Kampf um Direktmandate, lässt sich nicht ohne weiteres behaupten. Genauso wenig zwangsläufig empfinde ich es, dass die Abschaffung der Direktmandate zu einer geringeren Rolle der Regionen führen würde. Durch die unterschiedlichen Hochburgen der Parteien und nicht absehbare parteiinterne Dynamiken könnte genauso gut das Gegenteil eintreten.

Jedes Wahlrecht hat Vor- und Nachteile. Für mich ist jedoch eines klar, nämlich dass wir den zwingenden Auftrag haben, eine Lösung zu finden, die zu einem kleineren Bundestag führt. Hierfür halte ich unseren gemeinsamen Vorschlag für einen guten Ausgangspunkt, auch wenn dieser einen Kompromiss darstellt, bei dem wir etwa zähneknirschend auf die uns wichtige paritätische Besetzung der Listen verzichtet haben, da in der Wahlrechtskommission mehrere Fraktionen ihre deutliche Ablehnung zum Ausdruck gebracht haben. Für mich kann das Wahlrecht nur ein breit getragener Kompromiss sein und dieser sollte allen Parteien gleichmäßig wehtun."

Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen): "Für eine Wahlrechtsreform, bei der jede Stimme gleich viel wert ist"

"Der Bundestag ist zu groß. Laut Wahlgesetz soll er 598 Sitze haben, doch seit 2017 gibt es 709 Abgeordnete. Nach einer nächsten Bundestagswahl könnten es weit über 700 werden. Seit 2013 wissen wir, dass wir eine Wahlrechtsreform brauchen. Ziel muss sein, den Bundestag zu verkleinern. Viel Zeit bleibt uns dafür nicht.

Unser Verhältniswahlrecht hat eine Mehrheitswahlrechtskomponente. Das ist konstitutiv für unser Wahlsystem und das hat sich bewährt. Es ist den Bürger*innen vertraut, wird breit getragen und ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes immer wieder bestätigt worden. Jede Stimme ist gleich viel wert. Das Kräfteverhältnis der Fraktionen entspricht den für die Parteien abgegebenen Zweitstimmen. Alle Abgeordneten, egal ob per Direktmandat oder Liste eingezogen, sind gleichberechtigt und vertreten die Bürgerinnen und Bürger.

Für das Anwachsen des Bundestages verantwortlich sind vor allem die Überhangmandate. Diese entstehen, wenn eine Partei mit der Erststimme mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen der Partei zustehen. Damit das Kräfteverhältnis der im Bundestag vertretenen Parteien dem Ergebnis der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl eindeutig entspricht, sind für die anderen Fraktionen deshalb Ausgleichsmandate notwendig.

Gemeinsam haben Grüne, FDP und Linke einen Reformvorschlag auf der Basis des personalisierten Verhältniswahlrechts eingebracht. Dieser sieht eine Reduzierung der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 vor, eine Abschaffung des Sitzkontingentverfahrens und eine moderate Erhöhung der Regelgröße des Bundestages auf 630 Sitze. Damit gehen wir das Problem an der Wurzel an. Wir versuchen Überhänge und damit notwendige Ausgleichsmandate zu vermeiden. Das ist fair und verfassungsgemäß und trifft alle Parteien proportional in gleichem Maße. Es ist umsetzbar, der Gesetzentwurf liegt dem Parlament vor. Der Grundsatz, dass jede Stimme gleich viel wert sein muss, bleibt gewahrt.

Es muss jetzt Schluss sein mit der Hängepartie bei Union und SPD. Wir brauchen eine Verständigung zur notwendigen Wahlrechtsreform."

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