"Buschkowsky geht, Neukölln bleibt …"

Ich wohne in Neukölln, freiwillig, seit etwas über 4 Jahren, um genau zu sein

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Lebt man in diesem umstrittenen Bezirk Berlins, dann gewöhnt man sich recht schnell daran, dass der eigene Wohnort permanent im Mittelpunkt medialer Debatten steht, überwiegend im negativen Kontext. Regelmäßig wird dabei vor "Neuköllner Verhältnissen" gewarnt, meistens von Kommentatoren, die diesen Bezirk nicht aus eigener Anschauung oder nur von flüchtigen Expeditionen her kennen.

Bürgermeister Heinz Buschkowsky 2013 auf dem Kongress christlicher Führungskräfte in Leipzig. Bild: Christliches Medienmagazin/CC-BY-SA-2.0

Kürzlich ist der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky zurückgetreten. Buschkowsky hat mit Neukölln eines gemeinsam, beide sind weit über die Grenzen dieses Verwaltungsbezirkes im Südosten der Bundeshauptstadt hinaus bekannt. 13 Jahre reagierte Buschkowsky im Rathaus von Neukölln. Seine Bücher haben ihn reich gemacht, den Bezirk noch berühmter.

Seit geraumer Zeit lassen sich täglich Touristen aus den Weiten der Bundesrepublik in Bussen durch Neukölln bugsieren. Sie bestaunen die türkischen Obst- und Gemüseläden, die ihnen ja schon aus dem Werk von Buschkowskys Parteigenossen Sarrazin bekannt sind, die arabischen Shisha-Bars und Falafel-Läden, ebenso wie die wie Pilze aus dem Boden schießenden Bars und Galerien der neuesten Neueinwanderer schwäbischer, friesischer und französischer Provenienz.

Sie begaffen Kopftuchmädchen und Künstler am Hermannplatz, wo sie sich an einer der zahlreichen Wurstbuden stärken, ihre Currywurst mit Pommes ebenso verdauen wie ihre Eindrücke. Dann blicken sie noch einmal auf die älteste Karstadt-Filiale Deutschlands, Eröffnungsjahr 1929, bevor sie wieder in ihre Busse steigen, während sie dem vorbeirasenden Blaulicht der Polizeiwagen hinterherstarren.

Ein junger Hipster verstörte dabei neulich einige Touristen während ihrer Safari durch Neukölln, indem er neben dem Bus herlief und den Neugierigen einen großen Spiegel vorhielt. Rund 300.000 Menschen sind in Neukölln gemeldet ,mit ansteigender Tendenz, denn trotz aller Probleme wächst die Bevölkerung ebenso schnell, wie die Mietpreise steigen, was ja eher ungewöhnlich ist für ein Ghetto. So wurde der Bezirk noch in jüngster Vergangenheit bezeichnet.

Bild: R. Schack

Sobald ich meine Wohnung verlasse, die Haustür hinter mir ins Schloss fallen lasse, befinde ich mich auf der Hermannstraße, einer jener großen Einkaufs- und Verkehrsstraßen des Bezirks, teils heruntergekommen, teils im Aufbruch befindlich. Während ich auf meinem Weg in die Pizzeria "Rollberge Steinofen" bin , donnern Umzugswagen und Doppeldeckerbusse die Hermannstraße entlang. Die Pizzeria "Rollberge Steinofen", benannt nach dem gleichnamigen Kiez sowie dem dort erhältlichen gastronomischen Angebot, wurde vor 2 Jahren von Salah eröffnet.

Salah, 30 Jahre jung, gelernter Bankkaufmann, ist sehr beschäftigt. Es herrscht Hochbetrieb. Die Gäste sitzen an den hellen Eichentischen des Restaurants, dessen Wände mit Naturstein verkleidet sind. "Nein, dafür habe ich keine Zeit", erklärt Salah lachend auf die Frage, ob er eines der Bücher von Heinz Buschkowsky gelesen habe. Als Sohn arabischer Einwanderer und gläubiger Muslim ist er in Buschkowskys Buch thematisiert, denn dort heißt es:

Der Islam nimmt bei der Integration keine förderliche Rolle ein. Er stärkt eher das Verharren in tradierten Verhaltensmustern. Extreme Frömmigkeit kann zu hoher Hürde auf dem Weg in die moderne und liberale Gesellschaft werden.

Darauf angesprochen reagiert Salah selbstbewusst: "Wissen Sie, ich bin 30, habe eine abgeschlossene Ausbildung, bin unternehmerisch aktiv, zahle Steuern und schaffe Arbeitsplätze. Sicher gelingt das nicht allen Einwanderern, aber sicher auch nicht allen Bürgern ohne Migrationshintergrund, oder?"

Ist Neukölln also nun ein Hort der Gemütlichkeit, dessen soziale Turbulenzen permanent übertrieben werden? Gibt es denn keine Probleme, basierend auf "extremer Frömmigkeit", gar eine Ablehnung unserer Gesellschaftsordnung?

"Ich möchte eine Theokratie, keine Demokratie!", sagt mir der ältere Herr, der mir eine kleine Broschüre entgegenstreckt, in der die Grundpfeiler seiner Religion erklärt werden. Also doch! Nur handelte es sich bei dem Herrn um keinen Anhänger des Islams, sondern um einen Zeugen Jehovas.

Neukölln ist der der aufregendste Ort der Republik

Lange Zeit galten die Einwohner Neuköllns als Aussätzige, zumindest in der medialen Wahrnehmung, deren Auftreten, Aussehen, Herkunft und Verhalten gleichbedeutend waren mit all den Phänomenen, vor denen sich Deutschland fürchtet. Soziale Verwahrlosung, Überfremdung, gescheiterte Integration, prekäre Lebensverhältnisse, Hartz 4, Kriminalität und Gewalt. Sollte das jemals der Realität entsprochen haben, schaut es inzwischen ganz anders aus.

Neukölln ist nicht überall, wie Heinz Buschkowsky eines seiner Bücher betitelte, nein, Neukölln ist Nirgendwo! Warum? Nun, dieser Stadtteil befindet sich auf einer Reise, deren Geschwindigkeit permanent zunimmt, mit unbekanntem Ziel.

Bild: R. Schack

Neukölln heute, das ist der der aufregendste Ort der Republik. Ein explosiver und stimulierender demografischer Mix aus Schwaben und Salafisten, Hipstern und Hartz-4-Empfängern, Proleten und Philosophiestudenten, Malochern und Modedesignern.

Kleinbürgerlich bis bettelarm, neureich und neurotisch, von hektischen unternehmerischen Aktivitäten erfasst, wo Lebenslust, Vitalität und Frust ein einzigartiges Gefühl ergeben, welches durch den Begriff "urban" nur sehr unzureichend erklärt wird.

Der französische Philosoph Paul Ricoeur sagte 1998 in einem Interview: "Wir wissen nicht, in welchen Zeiten wir leben, wir sind nicht imstande, unsere Zeit zu definieren. Die Schwäche aller integrierenden Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, oder Gewerkschaft ist erschreckend." Ricoeurs Thesen sind heute wahrscheinlich aktueller als damals.

Heinz Buschkowsky war als Bürgermeister so eine Institution, wobei die Frage erlaubt ist, welches der vorhanden Probleme, die er zwar regelmäßig benannte, die auch während seiner Amtszeit zunahmen, er denn ansatzweise gelöst hat?

Neulich, an einem sonnigen Wintertag, machte ich einen Spaziergang durch meinen Kiez. Ich sah viele Gesichter an mir vorüberziehen: Deutsche und Dänen, Araber und Türken, Sinti und Roma, Kleinbürger und Kosmopoliten, Models und Malocher, Proleten und Philosophie-Studenten, Investoren und Insolvente, ich sah die Gesichter Neuköllns. Anschließend blieb mein Blick an der Wand eines Hauses aus der wilhelminischen Epoche hängen. Dort hatte jemand an die Wand gesprüht: "Buschkowsky geht, Neukölln bleibt!"