COVID-19: WHO-Studie findet kaum Belege für die Wirksamkeit von Eindämmungsmaßnahmen
Social distancing. Reisebeschränkungen. Ausgangssperren. Im Zuge der COVID-19-Krise sind mehr als 50% der Weltbevölkerung von WHO-empfohlenen Maßnahmen betroffen, für deren Wirksamkeit es laut WHO-Bericht vom Oktober 2019 wenig bis keine wissenschaftlichen Belege gibt
Im "Krieg gegen das Virus" spielen Maßnahmen eine Schlüsselrolle, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als non-pharmaceutical interventions (NPI) bezeichnet. Weithin bekannte Beispiele hierfür sind Handhygiene, Maskentragen, Schulschließungen oder Ausgangsbeschränkungen.
Zu den Kollateralschäden dieser nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zählen eine globale Wirtschaftskrise, die eine halbe Milliarde Menschen in Armut stoßen könnte, sowie die massivsten Einschnitte in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der vergangenen Jahrzehnte. Wer andeutet, dass die Rosskur schlimmer sein könnte als die Virenkrankheit, der wird, wo nicht direkt zum Schweigen gebracht, konsequent übertönt oder diskreditiert, während der neuentdeckte Endzweck allen staatlichen Handelns, Lebensverlängerung, nahezu alle Mittel heiligt. Nichts kommt einem dann neu-normaler vor, als dass man bis hin zum UN-Generalsekretär neben dem pandemischen Coronavirus wörtlich alles "ausrotten" will, was einem wie epidemische Fehlinformationen über das Virus erscheint.
Entsprechend populär ist der Gedanke, dass der Schutz von Menschenleben absoluten Vorrang hat, und es steht zu vermuten, dass er es auch dann bleibt, wenn wieder andere Erreger ins Blickfeld geraten. Denn je systematischer man Corona- und Influenzaviren nun vergleicht, desto deutlicher wird wie viele Menschenleben die Grippe jährlich fordert. Laut WHO gibt es jährlich 650.000 Grippetote weltweit. Wenn all diese Leben mit den aktuell implementierten Maßnahmen gerettet werden könnten, was spräche dann dagegen, diese starken Interventionen auch im Kampf gegen die Grippe einzufordern und aufrechtzuerhalten?
So unterschiedlich die Ansichten von Befürwortern und Gegnern starker Maßnahmen über die grundsätzliche Angemessenheit und langfristige Durchführbarkeit der aktuell verhängten oder geplanten NPI auch sein mögen, so einig scheinen sich beide Lager doch in der Annahme zu sein, dass die möglicherweise unverhältnismäßigen oder unhaltbaren Maßnahmen grundsätzlich wirksam sind.
Dieser unausgesprochenen Grundannahme widerspricht allerdings niemand anderes als die WHO, und das zuletzt in einem Dokument aus dem Herbst 2019, in dessen Zusammenfassung die WHO zu dem Schluss kommt, dass sich für die Wirksamkeit der meisten aktuell implementierten Maßnahmen nur schwache bis sehr schwache wissenschaftliche Belege finden lassen. Im Folgenden lohnt sich daher ein genauer Blick auf dieses Dokument.
Selbstwiderspruch: Die WHO dokumentiert 2019 die Abwesenheit von belastbaren Belegen für die Wirksamkeit der von ihr 2020 empfohlenen Maßnahmen
Erschienen im Oktober 2019, liest sich das WHO-Dokument "Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza" wie ein Katalog jener Massennahmen, die Regierungen im Zuge der COVID-19-Krise implementiert haben. Mit dem Anspruch, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen auszusprechen für den Einsatz verschiedener Maßnahmen in künftigen Grippe-Epidemien und -Pandemien, untersucht die WHO in diesem Dokument vier verschiedene Kategorien von NPI:
- Personenbezogene Schutzmaßnahmen wie Handhygiene, spezielle Nies- und Hustenverhalten und den Einsatz von Schutzmasken.
- Umgebungsbezogenen Maßnahmen wie Oberflächenreinigung, den Einsatz von UV-Licht oder Belüftungstechniken.
- Social-Distancing-Maßnahmen wie Contact Tracing, Isolation von Kranken und Quarantäne von Riskogruppen, Schul- und Arbeitsplatzschließungen und die Meidung großer Menschenmassen.
- Reisebezogene Maßnahmen wie Reisewarnungen, Screenings von Flugreisenden, Inlandsreiseverbote und Grenzschließungen.
Mit Blick auf diesen Maßnahmenkatalog rät die WHO im Falle einer Pandemie (hier definiert als globale Epidemie, ausgelöst durch einen bislang unbekannten Influenzavirus, für den noch keine Grundimmunität in der menschlichen Bevölkerung besteht) unabhängig vom Schweregrad den Einsatz aller personenbezogenen Schutzmaßnahmen, die Isolation von Kranken und Reisewarnungen. Bei moderat schweren Pandemien sollen diese Maßnahmen um den Einsatz von Gesichtsmasken, Schulschließungen und dem gezielten Meiden großer Menschenmassen ergänzt werden. Arbeitsplatzschließungen und internationale Reisebeschränkungen empfiehlt die WHO nur im Falle extrem schwerer Pandemien.
Ausdrücklich hält die WHO zudem fest, dass Contact Tracing, Screenings von Flugreisenden und Grenzschließungen unter keinen Umständen empfehlenswert sind (siehe Seite 3). Dessen ungeachtet wurden oder werden diese Maßnahmen von vielen Regierungen weltweit implementiert oder diskutiert.
Noch bemerkenswerter ist allerdings die von der WHO herausgearbeitete Faktenlage zu den verbleibenden Maßnahmen. Im Anhang zum oben genannten Dokument ("Annex: Report of systematic literature reviews") stellt die WHO tabellarisch die Ergebnisse einer ebenso umfassenden wie systematischen Auswertung einschlägiger Forschungsliteratur zusammen. Bei Tabelle 1 handelt es sich um ein typisches Beispiel:
Tabelle 1 beschreibt die unterschiedlichsten Interventionsmöglichkeiten und deren Wirksamkeit. Besonders bemerkenswert ist dabei die Spalte rechts außen zu GRADE evidence. Bei der Bestimmung der Qualität der gesammelten Fakten folgt die WHO dem Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation (GRADE)-Ansatz und unterscheidet demzufolge vier Qualitätsstufen: sehr niedrig, niedrig, moderat, und hoch. Mit Blick auf Tabelle 1 zeigt sich demnach, dass die WHO die Qualität der wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit der gelisteten Maßnahmen als sehr niedrig einschätzt.
Tabelle 1 ist dabei typisch nicht nur für den Aufbau, sondern auch für den Inhalt der allermeisten Tabellen in diesem Dokument. Tatsächlich kommt die WHO im Anhang ihres Berichtes zu dem Ergebnis, dass die Qualität der Belege für die Wirksamkeit fast aller damals untersuchten Maßnahmen als niedrig oder sehr niedrig einzuschätzen ist. Einzig mit Blick auf die möglichen Effekte von Handhygiene und Maskennutzung (S. 13), und dies vornehmlich in klinischen Kontexten (S. 11), benotet die WHO die Qualität der Fakten als moderat oder hoch.
Demnach gibt die WHO in ihrem Bericht vom Oktober 2019 zu, dass es kaum bis keine verlässlichen Hinweise für die Wirksamkeit der verbleibenden Interventionen wie Social Distancing, Reisebeschränkungen oder Ausgangssperren gibt.
Interessanterweise handelt es sich bei diesem WHO-Dokument nicht um das einzige Dokument, das zu diesem Ergebnis kommt. Bereits 2009 hatte das European Centre for Disease Prevention and Control's (ECDC) seinen "Guide to Public Health Measures to Reduce the Impact of Influenza Pandemics in Europe" veröffentlicht, welcher ganz ähnliche Tabellen zu einem sehr ähnlichen Set von Maßnahmen enthält (S. 3ff) und ebenfalls von geringfügigen bzw. unbewiesenen Effekten von insbesondere Social-Distancing-Maßnahmen und Reisebeschränkungen berichtet.
Ähnlich wie im Fall der WHO hat die äußerst dürftige Faktenlage das ECDC nicht davon abgehalten, eben jene Maßnahmen zu empfehlen, für deren Wirksamkeit zuvor keine wissenschaftlichen Belege gefunden werden konnten.
Bemerkenswert ist der ECDC-Bericht zudem, weil er auf Seite 1 eine frühe Version einer mittlerweile weltbekannten Flattening-the-curve-Abbildung einschließlich der dazugehörigen Argumentationskette enthält:
Die in Abbildung 1 skizzierte Strategie zur Eindämmung einer globalen Pandemie fußt demnach auf Maßnahmen, für deren Wirksamkeit weder das ECDC- noch das WHO-Dokument wissenschaftlich robuste Belege aufzeigen konnten. Auch ist es in den 10 Jahren der Forschung zwischen dem ECDC- und dem WHO-Dokument nicht gelungen, die Evidenz für die Wirksamkeit der betreffenden Maßnahmen zu erhärten.
Eine naheliegende Lösung
We found that there is a limited evidence base on the effectiveness of non-pharmaceutical community mitigation measures.
WHO-Dokument, S. vi
Diese vorweggenommene Selbstbeurteilung der von der WHO empfohlenen und von Regierungen verabreichten nichtpharmazeutischen Therapien gegen COVID-19 ist ein Euphemismus, und es empfiehlt sich, diesen Mangel an Evidenz in Erinnerung zu rufen, wann immer sich Entscheidungsträger auf evidenz-basierte Regierungs- und Führungsarbeit berufen und diese aufrechte Haltung einer "global misinfo-demic" entgegen stellen wollen.
Vergangenen Oktober fand die WHO wissenschaftlich robuste Belege für die Wirksamkeit von gerade einmal zwei der aktuell implementierten oder diskutierten Maßnahmen: Handhygiene und Maskentragen (in Institutionen des Gesundheitssystems). Die Qualität der wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit aller anderen Maßnahmen wie Social Distancing, Contact Tracing, Reisebeschränkungen und Hausarrest bezeichnete sie hingegen als niedrig oder sehr niedrig.
Wenige Monate später empfiehlt die WHO dann genau jene Maßnahmen, für deren Wirksamkeit sie kurz zuvor keine zuverlässigen Beweise finden konnte.
Der Widerspruch zwischen diesen beiden Ereignissen kann nun nicht einfach mit dem Hinweis aufgelöst werden, dass sich das WHO-Dokument von 2019 auf pandemische Influenza bezieht, während die COVID-19-Krise durch einen anderen und möglicherweise viel gefährlicheren Virus ausgelöst wurde. Denn zum einen bezieht sich die WHO auf Seite 3 des besagten Dokuments ausdrücklich auf ein neuartiges Virus, für das noch keine Grundimmunität in der menschlichen Bevölkerung besteht. Und zum anderen würden die aktuellen WHO-Empfehlungen dann noch fragwürdiger erscheinen: Wenn man das Coronavirus für den gefährlicheren Erreger hält, warum sollte man dann auf eine Liste von Maßnahmen setzen, deren Wirksamkeit sich nicht einmal gegen Grippe belegen lässt?
Eine naheliegende Lösung für den Umgang mit dem Selbstwiderspruch der WHO wäre es, sich bei den Maßnahmen auf jene zu beschränken, für deren Wirksamkeit die WHO wissenschaftliche Belege von zumindest moderater Qualität finden konnte. Dies wären Handhygiene und der Einsatz von Masken (in klinischen Kontexten) - möglicherweise ergänzt um Maßnahmen, die die WHO nicht untersucht hat, die sich aber im Kontext aktueller empirischer Studien als plausibel herausstellen.
Eine weniger naheliegende Lösung läge dahingegen in der Hoffnung auf die kombinierte Wirksamkeit einzeln wirkungsloser Maßnahmen und in dem Versuch, diese Hypothese im Rahmen eines Ereignisses zu überprüfen, das dann als das größte, teuerste und verheerendste Sozialexperiment in die Geschichte der Menschheit eingehen könnte.
Prof. Dr. Steffen Roth ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.
Dr. Michael Grothe-Hammer ist Associate Professor für Soziologie and der Technisch-Naturwissenschaftliche Universität Norwegens (NTNU). Er forscht zum Entscheidungsverhalten von Behörden in Krisen und Katastrophen.
Lars Clausen lehrt am UCL University College, Dänemark. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie, Organisationsentwicklung und Sozialpädagogik im Schulkontext.