Cancel Culture ist unmodern!
Warum ein einfacher Appell zweier Schriftsteller für Streit sorgt und warum ich unterschrieben habe
Was ist beleidigender, Werbung mit der Bezeichnung Zigeunersauce zu machen oder die Unterstellung, es könnte sich jemand davon angegriffen fühlen? Antwort: Kommt drauf an, wie man es sieht. Ist das Gendersternchen eine Kennzeichnung von Sexismus oder seine finale Manifestation? Kann man so sehen oder so. Das gilt aber nicht für alles im Leben.
Vor einer Zeit geriet ich einmal mit Liane Bednarz in Streit, weil ich es nicht für ein taugliches Argument halte, etwas sei die Position der AfD und damit indiskutabel. Es ging um die Feststellung Alexander Kisslers im Presseclub, Frau Merkel habe Entscheidungen 2015 nicht ausreichend kommuniziert. Entscheidet jetzt die AfD, wer was wie diskutiert? Bitte nicht. Wenn ich diesen Satz Kisslers für richtig halte, gilt das auch nicht automatisch für jeden Satz des Kollegen. Klar, oder? Nein, offenbar nicht.
In den letzten Tagen füllten zwei oder drei Kollegen meine Mailbox mit zahlreichen Proben ihrer recht mittelmäßig beherrschten Kunst der Herabsetzung und Beleidigung. Was war passiert? Ich habe einen Aufruf gegen Konformismus der beiden Autoren Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser unterschrieben, sie hatten mich sehr freundlich darum gebeten. Seitdem wird in Miniaturdebatten fröhlich gespielt, was im angelsächsischen gern flipping la tortilla genannt wird. Man kennt es bei uns vielleicht als Schwarzer Peter. Mich erinnert es am ehesten an die schöne alte Frage, ob nun die Bahn vom Bahnhof losfuhr oder der Bahnhof von der Bahn. Die einfache Lösung: Jedem seinen Standpunkt, - respektive jeder ihren natürlich!! - scheint unbekannt. Deshalb eine kurze Bemerkung.
Da längst die Sekundärtexte den Ton angeben, lohnt es, an Taucherbrille und Klickfest vorbei nochmal schnell zu wiederholen, was die Autoren schrieben:
Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral. Stammes- und Herdendenken machen sich breit. Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten - und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn. Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt oder überhaupt zum Thema werden darf. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.
Die häufigsten Gründe der Ablehner und Ablehnerinnen waren: 1. Der Aufruf ist selbst, was er bekämpft, wobei nicht existiert, was er bekämpft, sondern erfunden ist. 2. Die beiden Autoren sind politisch rechts, und das sind auch die meisten der Unterzeichnenden. 3. Alles ist Markt, egal was.
Ich kenne beide Autoren persönlich und habe nach kurzem Zögern unterschrieben. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass sie zuletzt den Pandemieskeptikern das Wort redeten, die ich rechts ansiedele, falls diese Sortierung noch was taugt. Kaiser erfand jetzt sogar das hochkomische Wort von den Ewigmorgigen, und meinte damit jene, die vor der Anwendung der Infektionsschutzgesetze nicht gleich in die weichen Knie gehen und das Ende der Demokratie fantasieren. Ein Ewigmorgiger bin ich eh gern.
Aber Gunnar Kaiser hat mich auf seinem TV Kanal auch einmal lange interviewt, und bekanntlich versuchte ich 10 Jahre lang zu erklären, dass das Patriarchat zu Ende ist und warum und wie: Ganz sicher keine rechte Position. Mit meinem Rat, Maskulinität neu und in der Tradition des frühen Feminismus zu denken, ist das ganz sicher eine emanzipative, also linke Position. Milosz Matuschek hat zu dem Komplex selbst ein lesenwertes Buch geschrieben. Er preist meines gern, was unter Kollegen gar nicht so oft vorkommt, und schon ein Teil neuer Männlichkeit jenseits von Konkurrenz, Kirche und Kollaps ist. So lernten wir uns kennen. Er ist einer der tätigsten deutschsprachigen Journalisten in der Unterstützung von Julian Assange. Schnell mal alles rechts stempeln und abheften: klappt nicht.
Interessant wurde es jetzt mit der Begründung von Svenja Flaßpöhler, mit der sie nicht unterschrieb. Flaßpöhler stellt eine Verengung des Diskurses auch fest, letztlich aber vor allem durch die beiden Autoren. Tatsächlich hatte Gunnar Kaiser in einem Interview mit der "Welt" gesagt, die Meinungsführerschaft hätten die Linksliberalen. "Aufgrund dieser in Teilen sträflichen und falschen Vereindeutigung der gegenwärtigen politischen Lage zu einer herrschenden, linken Gesinnungsdiktatur", so Flaßpöhler, habe sie den Appell nicht unterschrieben.
Nun liegt Gunnar Kaiser mit seiner Einschätzung sicher in der Tat ganz falsch, denn die AfD dominiert seit Jahren überproportional die Nachrichten. So does Trump. Andererseits ist von dieser Einschätzung Kaisers in dem Appell nichts zu lesen, und gegen den habe sie ursprünglich auch nichts. Schließlich habe sie durch die Publikation ihres Buches "Die potente Frau" all das alberne Ausgrenzen, Zuordnen und Unterstellen selbst erlebt. Sprich: Das Bilden von Gruppenzugehörigkeiten anstelle der rationalen Analyse. Es ist also leicht, Flaßpöhler zu sagen, sie mache nun gerade selbst, was sie den Autoren vorwerfe, eben selbst zu machen, statt dass sie es abschafften. Hübscher Teufelskreis, in dem gewinnt, wer am lautesten und längsten brüllt.
Wie kommt man bloß aus der Mühle heraus und sieht ein, dass weder der Bahnhof wegfährt noch der Zug, sondern dass es sich um relative Standortbestimmungen handelt? Ich möchte mir die Freiheit nehmen und bislang nicht beachtete Beispiele des Appells, der im besten Sinne allgemein gehalten wurde, nennen:
Zensierte Karikaturisten, verfolgte Whistleblower und Enthüller, Seminare, die nicht stattfinden können, weil sie gestört werden.
Man kann zum letzten Beispiel an Gerhard Amendt erinnern, der Frauenhäuser gründete und nach vielen Jahren Erfahrung dann forderte, zur betreuten Familie überzugehen. Er musste mehrfach Polizeischutz beantragen, wenn er auf Podien saß. Hier wurde abermals angewandt, wogegen sich Matuschek und Kaiser wenden: die Kontaktschuld. Sie fällt etwa an, wenn man Männer und Väter integriert. Ich kenne das aus dem Effeff, es geht so: Wer sich für Männer einsetzt, etwa bei Gesundheit, Vaterschaft, Gewaltprävention, egal, wer sich für Männer einsetzt, der ist für Machismo und Patriarchat, ergo gegen Frauen, folglich rechts. So weit, so oberblöde. Eine Binsenweisheit schließlich, dass Gewalt von Gewalt kommt. Ein gleichberechtigtes Gespräch wird bis heute tatkräftig unterbunden, bezüglich Elternschaft, dem key issue der Geschlechterfrage und toxischen Geschlechtlichkeit gibt es keines. Es existiert nicht, sondern wird wo immer niedergebrüllt. Check Twitter.
Ich hätte aber deswegen noch nicht unterschrieben, und zwar weil ich, wie Flaßpöhler, die MeToo höchst interessanterweise für eine Schwächung der Frauen hält, ja doch überall publizieren konnte und nicht mal schlecht verdient habe in der Zeit. Ich habe auch andere Aufforderungen, etwas zum zweifellos rechten Narrativ zu schreiben, man dürfe so vieles nicht mehr sagen, immer eine Absage erteilt. Der Jungen Freiheit gab ich nie das begehrte Interview, man hätte mich dort ja eh nicht verstanden. Stattdessen publizierte ich den Briefwechsel mit dem Redakteur dank seiner Zustimmung auf meiner Website. Eine beliebte Verengung der Motivation zur Unterschrift auf den unzulässig ideologisierten Kampf um Marktanteile funktioniert also auch nicht.
Unterschrieben habe ich auch noch nicht wegen der grundsätzlich richtigen Feststellung und der nicht politisch lokalisierbaren Beispiele, das wäre mir der erwartete Ärger nicht wert gewesen. Sondern wegen der Nennung der Karikaturisten. Sie führt uns zurück zum Sündenfall der Cancel Culture unserer Zeit, der Fatwa gegen Salman Rushdie. Womit wir es zu tun haben bei der Grüppchenbildung, ist ja eine Wiederbelebung der Glaubensgemeinschaft. Der Religion. Sie beruht auf dem Ab- und Wegkanzeln von Kritik zum Zwecke des Stillstandes aus Gründen der Zukunftsangst.
So ist es auch kein Zufall, dass der deutsche Sündenfall der neuen Cancel Culture aus eben jener religiösen Tradition kommt. Man darf sicher daran erinnern, dass Martin Mosebach einst unter dem Titel "Vom Wert des Verbietens" zwar zurecht darauf hinwies, dass Menschenwürde ohne christliche Ideale nicht denkbar ist, dann aber folgerte, dass Blasphemie, eine Schmähung des Glaubens, wieder strafbar sein sollte.
Vor über zwanzig Jahren war ich in der glücklichen Lage, einen Essay von Doron Rabinovic herausgeben zu dürfen, der das Verbot der Auschwitzlüge zum Gegenstand hatte. Holocaustleugnung, so zum Glück der Konsens, darf gecancelt werden. Wo hier der Zusammenhang ist? Mit der toxischen Wirkung der Kreuzigung auf Jungen haben sich viel zu wenige Menschen beschäftigt, sie ist ganz sicher ein Teil des Glaubens, der keinen Schutz verdient, im Gegenteil. Der Schaden, den die christlich-patriarchale Irrlehre mitverschuldet, geht aber noch viel weiter. Empfohlen seien die Psychoanalytiker Peter Gathman und Martina Paul mit ihrem Buch "Narziß Goebbels" als Auskunftsquelle. Mosebach arbeitete mit Kontaktschuld für den Fall der Differenzierung, oder anders herum: Er wollte ein Kontaktrecht installieren, das mit Verweis auf eine gute Idee alles andere, was der Gruppe unterlaufen und glücklicherweise längst aus der Zeit gefallen ist, unter Schutz stellt. Stalin hätte sich bedankt.
Irritierenderweise bezeichnete Navid Kermani kurz nach dem Versuch Mosebach, Blasphemieverbote als Quelle des kreativen Glücks und der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu installieren, als einen der tolerantesten Menschen. Das sah wie ein Freundschaftsdienst aus. Aber schwierig wurde es mit Kermanis Rede in der Paulskirche zur Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Man wird sich daran erinnern, dass er am Ende zum Gebet lud und alle mitmachten, fast alle. Nur wenige blieben sitzen.
Ich fand das Gebet ausgerechnet in der Paulskirche so hochkomisch wie jetzt den Begriff der Ewigmorgigen: Was für ein Kitsch. Kitsch ist ja, wenn ein Zeichen leuchtet, aber leer bleibt. Wenn es den Ernst seines Gegenstandes verrät. Gegen Pathos an sich habe ich nichts, auch nicht gegen Religion, denn auch ich werde kaum mit dem Leben davon kommen. Hochproblematisch fand ich die Rede inhaltlich, denn sie stellte darauf ab, dass der entführte Pater Jacques Terroristen auch Terroristen nannte, obwohl sie der anderen Kirche, der anderen Religion, angehörten. Nun bezeichnet Kermani dies nicht als Erbe der Moderne oder Revolution, die auch schon etwas länger weilt. Er sagte: "Aber ein Christ, ein christlicher Priester, der damit rechnen muss, von Andersgläubigen vertrieben, gedemütigt, verschleppt oder getötet zu werden, und dennoch darauf beharrt, diesen anderen Glauben zu rechtfertigen - ein solcher Gottesdiener legt eine Größe an den Tag, die ich sonst nur von den Viten der Heiligen kenne."
Ein Kurzschluss. Kermanis Rede war getränkt vom toxischen Stammes- und Herdendenken, von Glaubensgemeinschaften und deren Abgrenzungsschwierigkeiten und von Heroismus eines Trippelschrittes in den Universalismus. Dabei sollte es im Jahr 2015 absolut selbstverständlich sein, Terroristen als solche zu benennen. Das ist nicht das Maximum unserer Kultur, sondern der Grundkonsens. Welche Rolle spielt es denn, worauf sie sich wahlweise berufen? Es spielt nicht die allergeringste. Hat man das nicht im 20. Jahrhundert gelernt? So gut die Rede in dem Moment und vom Standpunkt Kermanis aus gemeint war, ihre Prämisse ist ein Zug, der den Bahnhof schon sehr sehr lange verlassen hat. Sie verdient keine Erwähnung mehr, und sie nützt auch nichts im Kampf gegen Terrorismus, den man einzig als Terrorismus bekämpfen muss.
Ärgerlicherweise erleben wir heute den Wiedereinzug der Idee von Glaubensgemeinschaft in die Legowelten der saturierten, gelangweilten Gesellschaft, in der es tagein, tagaus um Petitessen geht. Dagegen wendet sich der Appell, wie unschwer zu erkennen ist. Mit links und rechts hat das nicht im geringsten zu tun, mit Freiheit und Demokratie schon. Weil in der Glaubensgemeinschaft der Gleichschritt zählt und nicht das Argument. Und weil die Demokratie davon lebt, dass jeder, der seine Stimme einzeln abgeben kann, diese auch benutzt. Eigentlich klar, dass das genau unsere Gemeinsamkeit ist. Aber gut, dass wir drüber geredet haben.
Ralf Bönt, theoretischer Physiker beim CERN und DESY, ist seit den 1990ern freier Schriftsteller, veröffentlichte u.a. den Roman "Die Entdeckung des Lichts“, das Sachbuch "Das entehrte Geschlecht, ein notwendiges Manifest für den Mann" und die Erzählungen "Berliner Stille".
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