Chaos als Anti-US-Strategie?

Zum Anschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad

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Wie viele Opfer der Anschlag eines Selbstmordattentäters, der am Dienstag einen mit Sprengstoff gefüllten Lastwagen in das gefahren hat, insgesamt gefordert hat, wird wohl erst geklärt sein, wenn alle Gebäude-Trümmer beseitigt sind. Agenturen berichteten am Mittwoch, mindestens 20 Menschen, darunter der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Sergio Vieira de Mello, seien bei dem Anschlag auf das Canal-Hotel, Sitz der UNO in der irakischen Hauptstadt seit 1991, ums Leben gekommen, über 100 seien verletzt worden.

Der Lastwagen detonierte direkt unter dem Fenster des Büros von Sergio Vieira de Mello. Der UN-Spitzendiplomat ist inzwischen seinen schweren Verletzungen erlegen. UN-Sprecher Salim Lone geht davon aus, dass der UN-Sonderbeauftragte das eigentliche Ziel des Anschlags war. Warum aber die UNO unter Beschuss geraten ist und wer überhaupt für die Anschläge verantwortlich ist, ist zur Zeit völlig unklar.

Möglich ist, wie die BBC vermutet, dass die Anschläge mit den Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates vom 14. August zusammenhängen. Damals hatte der Sicherheitsrat den provisorischen irakischen Regierungsrat anerkannt und die "United National Assistance Mission in Iraq" (UNAMI) eingerichtet. "Die Vereinten Nationen werden deshalb vom irakischen Widerstand als Instrument der Vereinigten Staaten und Großbritanniens bei der Besetzung des Landes angesehen", so BCC-Kommentator Paul Reynolds.

"Chaos als Anti-US-Strategie" sieht dagegen die "New York Times" als Hauptziel des Anschlags. Die USA sollten als Ordnungsmacht im Irak diskreditiert werden, die nicht mal in der Lage sei, Sicherheit zu garantieren. Tatsächlich deuten die verschiedenen Terrorakte der letzten Zeit - auf die jordanische Botschaft, die Wasserversorgung und Bagdad oder die gerade neu eröffnete Pipeline zum türkischen Hafen Ceyhan - auf eine solche Strategie hin.

Bisher hat sich aber noch niemand zu dem Anschlag bekannt. In Regierungs- und Militärkreisen kursieren derzeit zwei Vermutungen: Die eine geht dahin, dass Saddam-Getreue für Anschläge verantwortlich sind. Nach der anderen Erklärung sind Al Qaida bzw. ihr nahe stehende Gruppen wie Ansar el Islam für Anschläge wie die auf die jordanische Botschaft und die UNO verantwortlich. Militär und Geheimdienste hatten in letzter Zeit verstärkt vor Ansar el Islam gewarnt. Die Lager der Gruppe im Nordosten des Irak wurden während des Krieges zerstört, die Zahl der Mitglieder im Irak wird gegenwärtig auf 150 geschätzt.

Wie es jetzt im Irak weitergeht und welche Rolle die Vereinten Nationen dabei spielen, ist jetzt offen. Möglicherweise rücken die USA und Großbritannien auf der einen Seite und Frankreich, Deutschland und Russland auf der anderen enger zusammen. Der britische Außenminister Jack Straw hat sich für ein stärkeres UN-Mandat im Irak ausgesprochen. Das käme den Ländern entgegen, die eine Beteiligung der UNO zur Vorbedingung dafür gemacht haben, Truppen zu schicken. Die US-Regierung und dabei besonders Rumsfeld und Vize-Präsident Dick Cheney wollen dagegen die Macht im Irak nicht mit der UNO teilen. Vom eilig zusammengetretenen Sicherheitsrat und seinen Mitgliedern wurde der Anschlag auf das Bagdader Hauptquartier der UNO jedenfalls einhellig verurteilt. UN-Generalsekretär Kofi Annan sagte, die UNO werde ihre Aktivitäten im Irak fortsetzen.

Eins kann aber jetzt schon gesagt werden: Nichts läuft im Irak so, wie es sich Bush-Regierung und Kriegsbefürworter vor dem Krieg ausgemalt hatten. Keine irakischen Massen standen am Straßenrand und winkten mit Amerika-Fähnchen, als amerikanische Panzer erstmals durch Bagdad rollten. Die Besatzung ist viel aufwändiger als gedacht, beinahe täglich gibt es Anschläge auf amerikanische Soldaten. Der Wiederaufbau ist teurer als gedacht, die Bevölkerung wird aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage immer unzufriedener. Ausfälle von Strom- und Wasserversorgung und sogar überteuerte Benzinpreise gehören im besetzten Irak zum Alltag.

Anscheinend entwickelt sich der Irak nach Saddam jetzt zu einem Land mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen, in dem sich Terroristen aller Art tummeln - vielleicht sogar Al-Qaida-Mitglieder. Vor dem Krieg hatte US-Präsident Bush versucht, den Krieg gegen den Irak als Teil des Krieges gegen den Terrorismus dazustellen. Das war wenig überzeugend, für Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Osama bin Laden gab es keine Beweise. Jetzt, nach dem Sturz des Saddam-Regimes, bekommt Bush vielleicht doch noch seine Chance, Al Qaida im Irak zu bekämpfen.

Die "New York Times" widmete einen Tag nach dem Anschlag gleich zwei Kommentare genau diesem Thema.

"Seit Amerika mit seiner Besatzung begonnen hat, ist der Irak ein Mekka für jeden zornigen, hassverzerrten arabischen Extremisten, der den Nahen Osten vom "räuberischen" Zugriff der Ungläubigen befreien will", schrieb Kolumnistin Maureen Dowd.

Das Bush-Team hat jetzt genau das Monster erschaffen, das es heraufbeschoren hat, um die Amerikaner dazu zu bringen, einen Krieg gegen Irak zu unterstützen.

Gastkommentatorin Jessica Stern sah in dem Anschlag "den letzten Beweis dafür, dass Amerika ein Land, das keine terroristische Bedrohung war, in eine solche verwandelt hat".

Die Besetzung hat verschiedenen Gruppen von verschiedenen Ländern ein gemeinsames Schlachtfeld gebracht, auf dem sie einen gemeinsamen Feind bekämpfen können.