Die zweite Front im Libanon: Israels grenzenlose Ambitionen
Israel hat eine zweite Front gegen die libanesische Hisbollah eröffnet. Das Land ringt um Normalität und zeigt bisweilen Widerstand. Eine Momentaufnahme.
60 Millionen deutsche Euro aus dem Bundestag sollen die schlimmsten Schrecken von Massenflucht und drohender israelischer Masseninvasion erstmalig lindern.
Tropfen auf den heißen Stein
Im Gepäck hat diese kärgliche Summe – sie dürfte dem berühmten Tropfen auf dem heißen Stein gleichkommen – Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), welche wie der Merkur berichtet am Montag zu einer kurzen Stippvisite im Zedernstaat eintraf und den libanesischen Ministerpräsidenten Nadschib Mikati in Beirut traf.
Im Gespräch mit diesem gab Schulze spannendes zu Protokoll. Sie sagte, dass eine Destabilisierung der Region und insbesondere des Libanon Auswirkungen auf Deutschland hätten und, dass es im deutschen wie im libanesischen Interesse sei "hier zu stabilisieren".
Schulze scheint vergessen zu haben, welche Regierung (der sie angehörig ist) die israelische Kriegsmaschinerie am Laufen hält. Wie die Tagesschau nach der Posse zwischen Kanzler Scholz und Oppositionsführer Merz berichtete, genehmigte die Bundesregierung alleine seit August 2024 Ausfuhren gen Tel-Aviv in Höhe von 94,05 Millionen Euro – ein Drittel höher als die Hilfen für Beirut.
Wer viel verdient, zieht gerne die Spendierhosen an. Zumal mit Entwicklungshilfen prinzipiell Einfluss – insbesondere für einen teuren Wiederaufbau – erkauft werden. Nach dem Krieg dürften die Karten im ökonomisch hoch spannenden Staat zwischen Frankreich, Deutschland und anderen Playern neu gemischt werden.
Schule des Krieges
Die israelische Armee eröffnete mit den durch den israelischen Geheimdienst iniitieren Pager-Angriffen eine zweite Front.
Dieser erste – einem Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht gleichkommende – Akt der Gewalt kostete – 37 Menschen das Leben (darunter ein 9-Jähriger und eine 11-Jährige), verletzte weitere 3200 und erblindete 500 Menschen, nach Angaben des Völkerrechtlers Norman Paech. Nach dem bekannten Mantra der israelischen Definition folgend, handelte es sich um eine Präventivschlag gegen aktuelle und kommende "Terroristen".
Doch dies sollte nur der Auftakt zu einem weiteren Großangriff sein: am 23. September folgten Bombardierungen, wie sie der Libanon seit 2006 nicht mehr erlebt hatte. Mitte Oktober startete die Bodenoffensive, deren harte Kämpfe rund um die Litani-Linie und den gleichnamigen Fluss noch immer anhalten.
Seitdem hält die arabische Bevölkerung im südlichen Teil des Libanon den Atem an – nach Angaben der UN sind im Land 800.000 Binnenvertriebene zu versorgen, hinzukommen 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Katastrophennachbarland Syrien – der Kotau der zivilen Versorgung droht. Diese Extrembelastung trifft auf einen korrupten, ineffizienten Staat und eine stark-geschwächte aber widerstandswillige Hisbollah.
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Währenddessen ringt die libanesische Gesellschaft und die Proporzpolitik um ein Mindestmaß an Normalität, insbesondere für die Kleinsten und Schützenswertesten. Um den tausendfachen Traumata etwas entgegenzusetzen, startete am 4. November die Schule, nachdem deren Start von ursprünglich im Oktober geplant vertagt werden musste.
Grundproblem sei jedoch, so der Bildungsminister Halabi gegenüber der Tagesschau, dass "in etwa 600 Schulen" Vertriebene untergebracht seien. Man greife in der Not auf Online-Unterricht oder Kompromisslösungen zurück. Ein Armutszeugnis für die Weltgemeinschaft und eigentlich ein klarer Arbeitsauftrag für die deutsche Entwicklungsministerin: Frieden von, für und mit Israel – jetzt!
Kehrtwende in Teheran?
Frieden scheint jedoch ein Fremdwort sein – während der Iran, nach mit Vorsicht zu genießenden Angaben der saudischen Zeitung Al-Arabiya, einen dritten Großangriff (nach dem 13. April und dem 1. Oktober) plant, versucht Israel das Hilfswerk Unrwa zu verbieten und geht mit rigoroser Härte in die Kämpfe um die Grenzziehung am Litani-Fluss.
Am vergangenen Sonntag konnte in Teheran eine kleine Kehrtwende vernommen werden: mit dem Oberkommandierenden der Revolutionsgarden – Generalmajor Hussein Salami – und dem Revolutionsführer Ayjatollah Ali Khamenei, traten gleich zwei Potentaten der Theokratie an die Mikrofone.
Wo in Teheran zuvor unter den Gesichtspunkten einer realistischen Chancen-Kosten-Nutzen-Kalkulation Zurückhaltung in Wort und Tat gepredigt wurde, schlug man eine härtere Gangart an. Salami sprach gleichsam wie Khamenei von einer "kieferbrechenden Antwort" und einem "Gegenschlag".
Widerstand zwecklos?
Daraus folgt zweierlei: Erstens ließ Teheran vollkommen offen, ob es eine genuin iranische Antwort geben werde, oder aber, dass diese – was weitaus wahrscheinlicher ist – durch die Proxy-Verbündeten der Region ausgeführt werden würde.
Zum Anderen gab es kein Wort zum tatsächlichen Ist-Zustand der Verluste auf iranischer oder libanesischer Seite.
Es mag also zutreffend sein, was die internationalen Medien mit Verweis auf israelische Quellen, über die von Naim Kassim geführte "Partei Gottes" geschrieben haben: durch gezielte Schläge habe Israel die Raketenreserven dezimiert (bis zu 80 Prozent), die Führungsregie ausgelöscht und es mehren sich die Stimmen, die die Hisbollah für den Ausbruch des Krieges mitverantwortlich machen.
Angefangen von Ministerpräsidenten Nadschib Mikati, welcher immer wieder auf die Umsetzung der Resolution 1701 drängt oder aber in den Worten des libanesischen Kolumnisten und politischen Analysten Jad Vattem: "Hisbollah (sei, LS) ein Einzelkämpfer, der Libanon in diesen Krieg gezogen hat".
Trotzdem wird Aufgabe keine Option im Duktus der Gotteskämpfer sein. Ähnlich wie in Gaza stehen den israelischen Truppen im Südlibanon in der Mehrzahl keine säkularen Gegner gegenüber, sondern mit dem Sieg von 2006 beweihräucherte Dschihadisten – in den Worten des Nahost-Experten Michael Lüders "eine neue Qualität" (Krieg ohne Ende, S. 208).
In der schiitischen DNA des Glaubens ist wenig derart tief verankert wie Widerstand – zudem mahnen 2800 Tote und 12000 Verletzte und nicht zuletzt die Geschichte.
Grenzenloses Israel
Warum mahnt die Geschichte die Hisbollah? Historisch haben sich im Sechstage-Krieg, in Camp David sowie 2006 gezeigt, wen Israel für schwach hält, der wird rigoros attackiert.
Insgesamt gilt es in einer erfrischenden Ehrlichkeit die Aussage der israelischen Botschaft in Deutschland ernstzunehmen: "Die meisten Staaten der Welt besitzen anerkannte und feste Grenzen. Der Staat Israel hat hingegen bis heute, 70 Jahre nach seinem Entstehen, noch keine international anerkannte Grenzlinie."
Israel hält laut UN Resolutionen Land von Syrien (Golan), dem palästinensischen Volk und des Libanon rechtswidrig besetzt. Es ist geradezu absurd, dass die erneuten Streitigkeiten um den Litani-Fluss und eine angebliche Sicherheitszone von 30 Kilometer tief in südlibanesischen Staatsgebiet Stein des Anstoßes sein werden.
Die Hisbollah weiß und kennt dies – vor einer nicht in Aussicht stehenden Waffenruhe und in Gaza und einem Rückzug der IDF hinter die Demarkationslinie wird es weder Frieden noch ein Ende der Angriffe auf Nord-Israel geben.
Mit den allseits bekannten Sicherheitsnotwendigkeiten wird am geostrategischen Plan eines Großisrael auf Kosten seiner arabischen Nachbarstaaten gefeilt – der erste Schritt zum Frieden wäre ein Ende der Angriffe auf den Libanon.