Charlie Hebdo: "Wenn man die Meinungsfreiheit verteidigen will, muss man aufhören, jung zu sein"
Das Satiremagazin veröffentlicht eine neue Mohammed-Karikatur zum Prozessbeginn über den islamistischen Terroranschlag von 2015 und sorgt sich über veränderte Einstellungen zur Meinungsfreiheit
In Paris hat heute ein großer Prozess zum islamistischen Terror-Anschlag auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo begonnen. Am 7. Januar 2015 töteten die Brüder Said und Chérif Kouachi 12 Personen, Mitglieder der Redaktion des Satire-Magazins, einen Techniker, einen Personenschützer und einen Mann, der sich ihnen bei ihrer Flucht auf der Straße in den Weg stellte. Als ein zentrales Motiv für die Bluttat in der Redaktion wurde Rache für Mohammed-Karikaturen genannt. Unter den Mordopfern befanden sich die Zeichner Cabu, Charb, Honoré, Tignous und Wolinski.
Die beiden Täter wurden zwei Tage später von der Polizei gestellt und erschossen. Im Prozess, der als historisch bezeichnet wird, geht es um Hintergründe des Anschlags, der lange vorbereitet worden war. Der Prozess wird gegen Helfer des terroristischen Anschlags geführt. Es gibt 14 Hauptangeklagte, wobei drei nicht anwesend sind - sie gelten als tot oder verschollen in Syrien oder dem Irak.
Ungefähr zweihundert zivile Parteien sind vertreten, etwa hundert Anwälte beteiligt. Die Anhörung wurde auf 49 Tage angelegt, wie Le Monde berichtet. Der Prozess werde in voller Länge gefilmt, was seine historische Bedeutung untermauere, so die Zeitung.
Radikalisierung zurück in der Debatte
Interessant ist aber auch seine aktuelle Bedeutung. Der Prozess holt das Problem des radikalen Islamismus wieder zurück in die Aufmerksamkeit, die von News bestimmt wird. Dort dominierte seit Monaten das Corona-Thema. Mit dem Prozessauftakt kommt eine Bedrohung wieder zur Sprache, die Frankreich lange Zeit in Atem hielt, der Anschlag auf Charlie Hebdo, der zeitgleich von einem anderen tödlichen Terrorakt auf einen koscheren Supermarkt und eine Polizistin begleitet wurde, war der Anfang einer Serie von monströsen Terroranschlägen im Nachbarland.
Die Debatte, wie mit der auf brutale Weise bittere Realität gewordenen Gefahr der Radikalisierung umgegangen werden soll, beherrschte den politischen Betrieb und die Fragen zur Selbstverständigung der Republik. Die Debatte mag von der Corona-Krise überdeckt worden sein, totgelaufen ist sie nicht, weil in ihr auch die Meinungsfreiheit verhandelt wird.
"Es ist hart, wenn man von Idioten geliebt wird"
Das aktuelle Cover der Extraausgabe von Charlie Hebdo zum Prozessbeginn nimmt diesen Faden direkt auf. Unter der Überschrift "Tout ça pour ça?" (übersetzt etwa: "Und das alles dafür?") wird eine neue Mohammed-Karikatur umrahmt von den weltweit bekannten früheren präsentiert. Im Mittelpunkt des Titelblatts vom 2. September ist der ganz in Schwarz gekleidete Prophet zu sehen, der sich zerknirscht die Hände vor die tränenden Augen hält. "Es ist hart, wenn man von Idioten geliebt wird", so die Sprechblase dazu. Der Text neben dem gezeichneten Propheten lautet: "Mohammed, überfordert von den Fundamentalisten".
Es gab dazu auch eine Wortmeldung aus dem Libanon. Macron, der sich gestern dort aufhielt, wurde auf das Titelblatt von Charlie Hebdo angesprochen. Er antwortete darauf, dass er sich als Präsident nicht einzumischen habe, und sprach sich nicht nur für die Pressefreiheit, sondern auch explizit für das Recht auf Blasphemie aus. Er verband diese Freiheiten allerdings mit einem Appell an einen respektvollen, zivilen Umgang mit diesen Freiheiten und mit der Pflicht (devoir), "keinen von Hass geprägten Dialog anzustiften".
Hier wird es schwierig, wer definiert die Grenzen des Respekts, das Zumutbare, worauf richtet sich der Respekt, auf Personen, auf Inhalte? Der Streit über die Versuche, Hassreden durch Gesetze zu unterbinden, ist ein Teil dieses mit emotionalen Minen bestückten Geländes, wo es keine fixen Antworten gibt.
Wandel in der Öffentlichkeit?
Geht es um Befindlichkeiten und Haltungen der Öffentlichkeit, wie sie sich in einer Ifop-Umfrage zur Meinungsfreiheit zeigt, so macht sich Charlie Hebdo Sorgen um die Jugend. Das zugespitzte Fazit lautet:
Wenn man die Meinungsfreiheit verteidigen will, muss man aufhören, jung zu sein.
Charlie Hebdo
Begründet wird dies mit Aussagen, die die Altersgruppe von 15- bis 24-Jährigen zur Einschätzung der Täter des Terroranschlages auf die Redaktion und zu den Karikaturen bei einer Interviewbefragung Anfang bis Mitte August abgegeben hat (1 020 Personen, repräsentativ für die Bevölkerung Frankreichs).
Auf die Frage, ob die Attentäter zu verurteilen sind, hätten 88 Prozent insgesamt und 72 Prozent der Muslime die Brüder Kouachi völlig verurteilt, was, so die Charlie-Hebdo- Autoren, zeige, dass 12, respektive 28% "sie sympathisch finden oder es ihnen egal ist". Dieser Anteil sei auffallend höher bei den 14- bis 24-Jährigen. Dort wurden lediglich 72 Prozent insgesamt und 62 Prozent der Muslime die Attentäter völlig verurteilen.
"Das erhöht deutlich die Popularität der Mörder und ihrer Akte", so der Schluss der Autoren. Sie untermauern ihren Eindruck noch mit dem Ergebnis, das sich bei den 15- bis 17-Jährigen zeigt. War es 2016 noch ein Prozent unter ihnen, die den Anschlag nicht verurteilten, so sind es bei der aktuellen Umfrage 22 Prozent.
Bei der Frage zur Einschätzung der Mohammed-Karikaturen verfestigt sich der Eindruck der Charlie-Hebdo-Autoren. 47 Prozent der 15- bis 24-Jährigen würden die Empörung über die Veröffentlichung der Karikaturen verstehen. In der Gesamtbevölkerung sind es 29 Prozent. Unter den Muslimen 73 Prozent - und 83 Prozent unter den Muslimen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren.
Auf die Frage, ob die Publikationen Recht oder Unrecht hatten, die Karikaturen zu veröffentlichen, "verteidigten nur 59 Prozent der Bevölkerung die Meinungsfreiheit", so Charlie-Hebdo. Bei den 15- bis 24 Jährigen sind es noch weniger, nämlich 35 Prozent. 69 Prozent der Muslime bewerteten die Veröffentlichung als unnütz. Der Anteil steigt bei den 15- bis 24-jährgen Muslimen auf 72 Prozent.