Chemnitz: Neues von der Trauerfront
Das Pogrom hat die Trauer zu einem Etikettenschwindel benutzt, der an Niedertracht kaum zu überbieten ist
Wenn Nazis Trauer tragen, fällt es schwer, einen Unterschied zu ihrem sonstigen Auftreten auszumachen. Denn sie tragen ja meistens schwarz. Also nutzen sie, wenn sie zu einem Trauermarsch nach Chemnitz reisen, einfach die gleichen Klamotten. Das macht es nicht gerade leichter, sich mit ihren Emotionen zu beschäftigen.
Es gibt keine Vorschriften, wie ein Trauerzug oder Trauer allgemein auszusehen hat. Das wird von verschiedenen Kulturen unterschiedlich gehandhabt und nicht zuletzt von den Hinterbliebenen bestimmt, deren Wünsche in einer solchen Situation Vorrang haben. Weinen ist keine Pflicht, wo kämen wir da hin? Aber es gibt in jeder Kultur, auch in der deutschen, Riten und Gebräuche, deren Befolgung besonders den traditionsbewussten und heimatliebenden Mitbürgern am Herzen liegt. Das möchte man jedenfalls meinen. Oder? Oder nicht?
Die ungeschriebenen Regeln sind einfach. Sie setzen sich quasi von selbst durch, ohne dass dafür ein Trauerkurs an einer Volkshochschule vonnöten wäre. Man dämpft die Stimme, pöbelt niemanden an und gebraucht keine Vulgärsprache. Man schleppt keine Schilder oder Transparente mit sich außer solchen, die sich positiv auf die verstorbene Person beziehen. Keine Nationalfahnen außer den offiziellen bei staatlichen Trauerfeiern.
Man nimmt auf einem Trauermarsch keine Waffen mit sich und keinen Alkohol zu sich, man fängt keinen Streit an und erst recht keine Prügelei. Keine Werbung für Konsumgüter oder politische Parteien. Kein Wahlkampf, kein Jihad. Wut über die Umstände des Todes, über erlittenes Unrecht oder mögliche Täter sollte in einer dem Anlass angemessenen, d.h. zurückhaltenden Form geäußert werden. Mit einem Satz: Die Trauernden unterschiedlichster Couleur sind sich in dem Wunsch einig, die verstorbene Person möge in Frieden eingehen, in Frieden ruhen, ihren Frieden finden. Die Trauerversammlung richtet ihr Verhalten danach aus, diesen Frieden nicht zu stören.
All das kann selbstverständlich kritisiert werden. Man kann es beschränkt finden, borniert, heuchlerisch, und man kann versuchen, eigene und bessere Ausdrucksformen für Trauer zu finden. Aber es ist nun mal state of the art, es hat sich über sehr lange Zeiträume so herausgebildet und es ist, mit Verlaub, das Volk in einer Verfasstheit, die nicht seine schlechteste ist. Deshalb werden die Rituale sogar von ihren Kritikern respektiert.
Nach dieser etwas umständlichen Vorrede dürfen wir uns eine Meinung über die von der Gruppierung "Pro Chemnitz" veranstalteten Kundgebungen bilden. Sie hatten mit Trauer nichts zu tun. Auf dem umfangreichen Bildmaterial, das die Aufmärsche dokumentiert, findet sich nicht eine Person mit nachdenklichem Gesichtsausdruck, gerunzelter Stirn, verweinten Augen, bedrückter Miene, gebeugter Haltung oder verlegen gefalteten Händen.
Auf dem umfangreichen Tonmaterial findet sich keine Erinnerung an den Verstorbenen: Wer war er? Wie hat er gelebt? Was hat er gemacht und welche Ziele verfolgte er? Was sagen seine Angehörigen und seine Freunde? Wie konnte es geschehen, dass sein Leben auf so brutale Weise ausgelöscht wurde? Ein Interesse an der Person, ein Schmerz über den Verlust dieser Person ist nicht erkennbar.
Die Marschierenden, die in Wirklichkeit ihre Pegida-Krawalle nach Chemnitz verlegt haben, beschäftigen sich ausschließlich mit der Herkunft der mutmaßlichen Täter. Die reicht ihnen als Grund, um scheinbar undeutsche Menschen durch die Straßen von Chemnitz zu jagen. Das Pogrom hat die Trauer zu einem Etikettenschwindel benutzt, der an Niedertracht kaum zu überbieten ist.
Ausrasten oder die Entfesselung der Wildheit
In der notwendig einsetzenden politischen Debatte über das Geschehen verblüffte der Seniorchef der AfD, Alexander Gauland, wieder einmal mit einem extrem unterkühlten Statement. "Wenn eine solche Tötungstat passiert, ist es normal, dass Menschen ausrasten", sagte er der Zeitung Die Welt. Besonders der rechtfertigende Gebrauch des Wortes "normal" ist in diesem Kontext mehr als problematisch. Der Nationalsozialismus erklärte Pogrome für normal, weil sie Ausdruck eines Naziempfindens waren, das zum "gesunden Volksempfinden" erklärt wurde. Die beiden deutschen Nachkriegsrepubliken sind von dieser Auffassung abgekommen und haben versucht, Gesetze an die Stelle des angeblich Normalen zu setzen. Es ist interessant, wie offen und durchlässig ein grenzbegeisterter Politiker seine eigene Grenze zum NS-Denken gestaltet.
Der Mann, der notorisch Bildung mit Einbildung verwechselt, verrät einmal mehr, wie kümmerlich es um die Bildung seines Herzens oder Gemüts bestellt ist. Das "Ausrasten" nach Gewalttaten ist nichts anderes als die Entfesselung von Gegengewalt und Rache. "Normal", das heißt allgemein üblich, war das zu einer Zeit, als die Menschheit die Kultur noch nicht erfunden hatte. Dann setzte sich im Laufe Jahrhunderte langen Nachdenkens die Erkenntnis durch, dass es für das Gemeinwesen schädlich ist, wenn jede Schlägerei in eine Blutrache mündet, die bis zur Vernichtung eines der beteiligten Clans eskaliert.
Gebote wie das alttestamentarische "Auge um Auge, Zahn um Zahn" regulierten das Ausrasten und dämmten es allmählich ein. In die Anfänge der menschlichen Zivilisation fallen auch die Anerkennung der Trauerarbeit und der Respekt vor der Trauer durch den sozialen Verbund. Rituale wurden erfunden, um diese Prozesse zu ermöglichen und ihnen einen unterstützenden Rahmen zu geben. Religionen lieferten weltanschauliche Begründungen. Gräber und Grabesbeigaben finden die Archäologen als älteste Zeugnisse menschlicher Kultur. Das ist kein Zufall, denn damit fing die Kultur überhaupt erst an.
Nazis haben für solche "Weibergeschichten" allenfalls Verachtung übrig. Nicht umsonst träumen sie von sich selbst als Wolfsnatur in Menschengestalt. Die Entfesselung der Wildheit, die der Altright-Gründer Steve Bannon proklamierte, bevor er seine Drittkarriere als Consultant europäischer Nationalisten startete, gehört zum Programm jedes Faschismus. Gauland nennt es Ausrasten. Ihm sei das nicht fremd, signalisiert er den Kameraden, und gefällt sich in der Rolle des heimlichen Wilden von Potsdam.
Die hier angesprochenen Phänomene wurden bereits vor 50 Jahren umfassend untersucht. Das Psychoanalytiker-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich veröffentlichte 1967 die Ergebnisse dieser Arbeit. Ihr legendäres Buch trägt den Titel "Die Unfähigkeit zu trauern - Grundlagen kollektiven Verhaltens". Sein erstes Kapitel ergänzt das Thema: "womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben".
Frau Mitscherlich-Nielsen hat in ihren späteren Büchern unablässig darauf hingewiesen, dass jene Unfähigkeit zu einem "Wiederholungszwang" führe, das heißt nicht nur zu Wiederholungen, sondern zu zwanghaften Wiederholungen nicht verarbeiteter Erfahrungen. Reichhaltiges Anschauungsmaterial für diese These bietet sich denjenigen Chemnitzern, die in diesen Tagen von dem Gefühl heimgesucht werden, dass es irgendwo doch einen Unterschied zwischen Trauer und Hass geben muss.
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