Chilenische Kontinuitäten

Mit Michelle Bachelet ist in Chile erstmals eine Frau ins Präsidentenamt gewählt worden. Aber was wird sich dadurch verändern?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Michelle Bachelet wird die erste Präsidentin von Chile. Das ist nach der Stichwahl zwischen der Kandidatin der Sozialistischen Partei und dem Milliardär Sebastián Piñera am Sonntag klar. Das Innenministerium in Santiago de Chile bestätigte das Ergebnis nach Auszählung von über 97 Prozent der Stimmen. Im zweiten Wahlgang setzte sich die 54-jährige Politikerin demnach mit 53,5 Prozent der Wählerstimmen gegen den Herausforderer von der rechtskonservativen Partei Nationale Erneuerung (RN) durch. In der Hauptstadt feierten Anhänger der künftigen Präsidentin den Wahlsieg mit Hupkonzerten und Feiern auf den Straßen. Seit dem Ende der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet im Jahr 1990 wird Bachelet ab dem 11. März die vierte formal demokratische Regierung anführen.

Die Freude in der Bevölkerung ist vor allem einem Umstand geschuldet: Dass sich das rechte Parteienbündnis der „Allianz für Chile“ auch bei dieser Wahl nicht durchsetzen konnte. Denn auch anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der Militärherrschaft werden die Parteien rechts der Mitte mit der Diktatur assoziiert. Die Ablehnung der Rechten obsiegte so über die Enttäuschung über mangelnde demokratische Reformen der scheidenden Regierung unter Ricardo Lagos, der wie Bachelet der Sozialistischen Partei angehört.

Noch im August hatte dessen Regierung – wohl im Hinblick auf den bevorstehenden Urnengang – die Verfassung aus dem Jahr 1980 in mehreren Punkten überarbeitet. Im Wahlkampf dann hat sich die gelernte Kinderärztin Bachelet alle Mühe gegeben, volksnah und progressiv zu erscheinen. So mag es dem Mangel an politischer Programmatik oder gar konkreten Ergebnissen der Vorgängerregierung geschuldet sein, dass am Sonntag alle Protagonisten vor allem auf den Umstand hinwiesen, dass das Präsidentenamt künftig mit einer Frau besetzt wird.

Doch auch eine Präsidentin...

Sogar der Gegenkandidat Piñera bezeichnete den Sieg seiner Kontrahentin als „Symbol für Millionen Frauen“. Bachelets Wahlkampfleiter sprach von einem historischen Wahlergebnis. Es sei „das erste Mal, dass in Südamerika eine Frau vom Volk zur Präsidentin gewählt wird“.

Ich war die erste Frau in der Geschichte Chiles, die Gesundheitsministerin geworden ist, und die erste Verteidigungsministerin, und wenn ich gewählt werde, wäre ich Chiles erste Präsidentin. Das bedeutet für so viele Frauen soviel.

Michelle Bachelet vor der Wahl

Auch der scheidende Präsident Lagos stimmt in den Chor ein. Die 54-Jährige sei „eine großartige Frau“, die auf eine ebenso großartige Regierung hoffen lasse. Bachelet selbst hatte zuvor im Fernsehen gesagt, sie fühle sich sehr begünstigt.

...bewegt sich in den Fußstapfen der Diktatur

Ob Frau oder nicht – das Problem in Chile liegt weniger auf geschlechtsspezifischer denn auf politischer Ebene. Auch nach der Verfassungsreform vom August 2005 sind noch maßgebliche Teile der undemokratischen Konstitution in Kraft, die 1980 auf dem Klimax der pinochetistischen Herrschaft verabschiedet wurde. Präsident Lagos lobte die jüngste Reform trotzdem. Mit der Novellierung von 58 Artikeln seien die „Spuren der Diktatur beseitigt“ worden, sagte Lagos damals. Zwar wurden von dem regierenden Parteienbündnis für Demokratie (Concertación) aus Sozial- und Christdemokraten damals tatsächlich eine Reihe antidemokratischer Bestimmungen aufgehoben. Doch Vertreter kleiner und blockunabhängiger Parteien bewerteten das Ergebnis negativ.

Denn auch unabhängig von der diktatorischen Verfassung besteht in Chile ein zweipoliges Wahlsystem fort. Geschaffen wurde es erst 1990, als Zugeständnis an die damals noch amtierende Militärjunta. Weil nicht die Stimmen für einzelne Parteien, sondern die Gesamtstimmen für Partei- oder Bündnislisten entscheidend für die Sitzverteilung im Parlament ist, wurde kleinen und unabhängigen Kräften der Weg in die Volksvertretung verwehrt. Ein vergleichbares System existiert heutzutage nur noch in Indonesien. So haben nur die beiden großen Bündnisse, neben der Concertación eben die rechte „Allianz für Chile“, Aussicht auf Erfolg. Das Linksbündnis Junto Podemos Más (Gemeinsam können wir mehr) bleibt außen vor. De facto wird Chile also auf unbestimmte Zeit von Christ- oder Sozialdemokraten regiert, deren Positionen sich wenig unterscheiden.

Ausgeschlossene uneins über Haltung zur Regierung

Der in der ersten Wahlrunde mit 5,27 Prozent ausgeschiedene Kandidat des Linksbündnisses, Tomás Hirsch, wiederholte auch am Wahltag seine Kritik an der Sozialistischen Partei und ihrer Kandidatin. „Ich möchte Unabhängigkeit und Freiheit wahren, um eine demokratische Alternative in Chile aufzubauen“, erklärte Hirsch, der zugleich der Humanistischen Partei Chiles vorsteht. Hirsch hatte zur Abgaben ungültiger Stimmen aufgerufen, „weil damit verdeutlicht wird, dass wir keinen der Kandidaten unterstützen und damit auch nicht Teil der politischen Kontinuität von der Diktatur bis heute sind“.

Die Kommunistische Partei Chiles, die zusammen mit den Humanisten, den linken Christen und über 50 kleineren Gruppen in dem Bündnis zusammenwirkt, rief vor dem zweiten Wahlgang hingegen zur Wahl Bachelets auf. Diese hatte zuvor erklärt, die demokratischen Reformen „weiter voranzubringen“. Hirsch und seine Anhänger hatten eine solche strategische Unterstützung der Sozialistin abgelehnt, weil die Reformen, wie er sagt, „keine Verhandlungsmasse“ sein dürften. „Die vollständige Herstellung der Demokratie muss für jede rechtsstaatliche Partei eine Selbstverständlichkeit sein“, so Hirsch.

Ausblick: Chile in Lateinamerika

International wurde die Wahl Bachelets als Fortsetzung des Linksrucks bewertet. Dass dies eine recht ungenaue und überdies wenig aussagekräftige Interpretation ist, zeigt der Blick auf die wirtschaftspolitische Perspektive. Definiert man einen zentralen Aspekt der neuen lateinamerikanischen Linksregierungen in der angestrebten wirtschaftlichen Souveränität gegenüber den regional dominierenden USA – was eine Abkehr von neoliberalen Freihandelsmodellen voraussetzt – so bleibt Chile dabei unter Lagos wie auch unter Bachelet außen vor. In ihrer Siegesrede kündigte die designierte Staatschefin eine Fortsetzung der „marktorientierten Politik“ der Regierung an, die Chiles Wirtschaft zu einer der „stärksten der Region“ gemacht haben. Dass sich diese Entwicklung zwar in den makroökonomischen Bilanzen, nicht aber im Lebensalltag der Menschen widerspiegelte, ist einer der Aspekte, die im Jubel des Wahlabends untergingen.

Auch weiterhin gilt: Chile war der erste Staat Lateinamerikas, der im Jahr 2004 mit den USA ein bilaterales Freihandelsabkommen abschlossen und damit die Pläne einer regionalen Integration unterlaufen hat. Der Protest dagegen war im Land groß. Und auch außenpolitisch musste die Regierung Lagos, die sich militärisch führend an der umstrittenen UN-Mission in Haiti nach dem Sturz des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide beteiligt, gegen enorme Widerstände kämpfen. Bislang gibt es keine Anzeichen, dass die kommende Regierung an diesen Vorgaben maßgeblich etwas zu ändern beabsichtigt.