Cinephile Visualisierung eines Kinogenies
The Stanley Kubrick Archives
Mit The Stanley Kubrick Archives legt der Taschen-Verlag die bisher ambitionierteste cinematografische Edition zum Werk des renommierten Filmemachers vor. Auf 544 schwergewichtigen Seiten im aufwendigen Querformat wird Stanley Kubricks Schaffen eindrucksvoll dargestellt: Das autorisierte Kinowerk von 12 Spielfilmen, von Kiss me, Kill me (1955) bis zu Eyes Wide Shut (1999) wird in opulenten Bilderstrecken, deren Aufnahmen vom Film gezogen sind, cinephil visualisiert.
Im zweiten Teil Der kreative Prozess wird die Entwicklung des anfänglichen Fotografen als späterer Filmemacher verfolgt, der sein ganzes Leben und Werk auf der Suche nach außergewöhnlichen Bildwelten und Darstellungsmöglichkeiten jenseits des üblichen Raum-Zeit-Ordnung auch noch heutiger Action-Kost war. Seit sich Produzent Jan Harlan und Witwe Christiane Kubrick verstärkt darum bemühen, die Schätze des zu Lebzeiten zurückgezogenen Meisters in Ausstellungen (Die Welt ist nicht genug, Evolution als Verschwörung intergalaktischer Intelligenz?) und Publikationen für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sind interessante neue Bilder von der Produktion auf den Sets aufgetaucht, sogar alternativ gedrehte, später herausgeschnittene Szenen. Eine neue Generation von DVDs zeichnet sich ab.
Davon profitiert auch das von Alison Castle kundig edierte Buch. Die Textstrecke kommt gleichfalls nicht zu kurz. Vor allem durch die Bündelung bisher verstreuter, meist nur Kennern und Forschern zugänglichen Essays und Interviews. Angaben zu den nicht durchgeführten Projekten, ein Filmstreifen (aus dem Inneren des Supercomputers HAL in 2001) sowie eine Interview-CD mit Kubricks Originalstatements aus den 60er Jahren komplettieren die wuchtige Sammlung.
Die SW- und farbgetreuen Filmbilder halten auf weite Strecken die Balance zwischen der Filmerzählung und dem für Stanley Kubrick so typischen Eigengewicht, der Mehrdeutigkeit der Bilder: Die filmische und die fotografische Spannbreite zwischen der präzisen Anschaulichkeit im Detail und der kühlen Distanz des Einzelstücks im mosaikförmig konstruierten Ganzen. Selbst ohne den vertrauten Zauber von Musik, Ton, Entwicklung und Bewegung (ausführlich und überzeugend verdeutlicht im Boxkampf von Barry Lyndon mit einem Garnisonskameraden oder seinem Ausraster als irischer Emporkömmling gegen den jungen Lord Bullingdon vor dem englischen Adel) wird die durchgängig intensive Arbeit an den realen Drehorten und den meist allseitig begehbaren Studiosets auch im Buch spürbar.
Eine Arbeit, welche die Unterscheidung von Dokumentar- und Spielfilm in einer für Kubrick einzigartigen Weise aufhob. Und das nicht nur für Werke wie Dr. Strangelove, 2001 und Full Metal Jacket, wenn Kubrick sich reale oder naturgetreue Sets einer Bomberkanzel, von wiederverwendbaren Raumschiffen bauen oder eine Gaswerks-Ruine nahe London besorgen und demolieren ließ, um „on location“ das innere und äußere Drama seiner Charaktere im professionellen Dekor Schritt für Schritt zu entfalten.
Kubrick strebte stets ein vielschichtiges Kino-Ereignis jenseits einer einfachen linearen Story an. Seine Filme setzen den Zuschauer auf mehr als eine Fährte, um eine tiefgreifende Begehung der Orte einzuleiten. Eine ebenso magische Beschwörung wie streng wissenschaftliche Bestandsaufnahme, aber auch gnadenlose Vernichtung von nahe liegenden Hypothesen und Perspektiven. Vom ersten Augenblick seiner Filme an leistet Kubrick eine physische und mentale Transformation des gesellschaftlichen Raumes und seiner verschwiegenen Nebenwege, der engen Korridore, belebten Kreuzungen, einsamen Außenposten und Dead-Ends.
Da gibt es überraschende Erkundungen und Zeitreisen (wie Dannys Dreirad-Touren in den Gängen des Overlook-Hotels in Shining), verblüffende Ausgrabungen (wie das interplanetare Signal beim Fund des zweiten Monolithen im Mondkrater Tycho in 2001 oder das schmerzliche Rendezvous mit den Todgeweihten in Full Metal Jacket, welches die verdruckste „Unschuld“ des jugendlichen Kriegsberichterstatters Joker vollends zerstört). Nicht beabsichtigte Aktivierungen von gefährlichen Maschinerien der militärischen Macht und der sozialen Kontrolle führen zur Zerstörung von klaustrophobischen Enklaven, in denen sich der normale Wahnsinn in den absonderlichsten Formen totalitärer Paranoia, vorgeblicher Allwissenheit und närrischen Potenzgehabes austobt (General Jack D. Ripper in „Dr. Seltsam“; die elektronische Neurose des auf Menschen eifersüchtigen Bordcomputer „HAL“; das perfide Orgien-Ritual der vom Erfolg kastrierten Upper Class in Eyes Wide Shut).
Die festgebannten Bilder im Riesenalbum plaudern die Spannung der Filme nicht aus, sie halten sie genüsslich fest, gerade auch dort, wo sie Annäherungen ausbremsen, Höhepunkte überspielen oder Dinge andeuten, die der noch uneingeweihte Zuschauer nicht versteht. Bei einigen Kamerafahrten, Innenansichten und Handlungsschritten (Clockwork Orange, Eyes Wide Shut) nähern sich die immer kleinteiliger werdenden Fotostrecken etwas zu sehr der Gattung Fotoroman, den Kubricks Filmlogik in ihren intermedialen Konstruktionen, Rochaden, Spannungen und Brüchen gerade unerbittlich vermeidet.
Insgesamt erhöht das Buch die Lesbarkeit der Filme durch die Filmstills, während im Kino die kompositorischen Verdichtungen oft in hohem Tempo ablaufen und der Aufmerksamkeit entgehen. Die Kubrick-Archive erweisen sich als Puzzleteile eines von Film zu Film weiter ausgebauten, immer wieder in andere Richtungen intensiv erforschten Labyrinths menschlicher Stärken und Schwächen, Empfindlichkeiten und Sehnsüchte, Alpträume und Grausamkeiten.
Stanley Kubrick ist tot, sein Werk lebt und sendet Qualitätsblitze in die digital nivellierte Kinolandschaft, sein Archiv aber bleibt ein zerebraler Olymp. Der war noch nie so lebendig, weil wir jetzt darin einziehen und wohnen dürfen.
The Stanley Kubrick Archives. Edited by Alison Castle. In Cooperation with Jan Harlan, Christiane Kubrick and the Stanely Kubrick Estate. 544 Seiten. Zahllose Abbildungen. Taschen Verlag, Köln, London, LA, Madrid, Paris, Tokyo. ISBN 3-8228-2284-1, Preis 150 Euro.