Citizen Data Journalism: die Rückeroberung der Information

Seite 2: "Bundes-Notbremse" und "Jojo-Lockdown"

Die aktuelle Strategie zur Eindämmung der dritten Welle ist im frisch novellierten Infektionsschutzgesetz enthalten. Es definiert für Landkreise einen Inzidenzwert von 100 als Auslöser für Lockdown-Maßnahmen. Dabei sollten Schulen bis zu einem Inzidenzwert bis 200 offen bleiben. Was wären die Folgen?

Mit dem Modell hat Paessler das exemplarisch für eine ganz durchschnittliche Großstadt mit 250.000 Einwohnern durchgerechnet, d.h. eine Stadt, die die gleiche Inzidenzsituation hat wie Deutschland.

"Ab Mai sinken die Fallzahlen (durch die Wirkung der Impfungen), über den Sommer liegt in unserer Musterstadt die Inzidenz um 30 herum. Aber es gibt ein Problem: Ab Juli findet das komplette Infektionsgeschehen praktisch nur noch bei Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren statt, denn diese Gruppe ist noch gar nicht geimpft. Jede Woche infizieren sich 60 Menschen, und zwar fast nur noch Kinder und Jugendliche. In dieser Altersgruppe liegt die Inzidenz im Sommer bei über 100 und steigt dann im Herbst auf mehrere Hundert an", analysiert Dirk Paessler.

Deutschlandweit betrachtet würde das etwa 15.000 infizierte Jugendliche ergeben, jede Woche. Dazu 20.000 Sterbefälle und 260.000 Long-Covid-Patienten bis zum Herbst.

Das Problem der ungewissen Saisonalität

Es ist eine wohlbegründete Annahme, dass Covid-19 wie auch andere Krankheiten, die von Corona-Viren ausgelöst werden, saisonalen Effekten unterliegt. Die berühmte "Grippesaison" stützt diese Annahme. Die Frage ist, wie stark dieser Effekt ist. Reicht er aus, um die Pandemie einzudämmen? Das RKI geht davon aus, dass der Einfluss relativ schwach ist und verwendet in seinen Modellen eine Absenkung der Basisreproduktionszahl ("R-Wert") um 0,2 Punkte.

Auch Paessler verwendet diesen Wert. Doch diese Zahl ist nicht gut belegt, in der Tat ist die Erkenntnislage bei der Saisonalität schlecht. Drei Faktoren könnten dazu beitragen, dass in den Sommermonaten weniger Ansteckungen stattfinden, durch Temperatur, Luftfeuchtigkeit, UV-Strahlung und verändertes Sozialverhalten.

Eine aktuelle Studie analysiert den Ausbruch der "zweiten Welle" in den Ländern Europas auf den Zusammenhang mit den genannten Faktoren. Stephan Walrand zeigt in "Autumn COVID-19 surge dates in Europe correlated to latitudes, not to temperature-humidity, pointing to vitamin D as contributing factor", dass Temperatur und Luftfeuchtigkeit nicht mit dem Ausbruch der Wellen in den verschiedenen Ländern korrelieren – wohl aber der Sonnenstand – und damit die UV-Strahlung.

Ein wesentlicher Effekt des Sonnenlichts ist die Bildung von Vitamin D, dessen Einfluss auf das Immunsystem gut dokumentiert ist. Walrands Ergebnisse könnten auch erklären, warum saisonale Effekte in Ländern außerhalb Europas schwächer sind: Die stärkere Hautpigmentierung großer Teile der Bevölkerung senkt den positiven Effekt der Sommermonate – und damit den saisonalen Effekt.

Eine weitere Schlussfolgerung ist, dass People of Color in Mittel- und Nordeuropa stärker von Covid-19 gefährdet sind und möglicherweise Priorität bei der Impfreihenfolge erhalten sollten. Die Priorisierung der Notunterkünfte in Deutschland erfüllt diese Funktion nur zu einem geringen Teil.

Die Tatsache, dass der Effekt der Saisonalität so deutlich erkennbar ist, während der Effekt von Lockdowns nach wie vor schwer nachzuweisen ist – die aktuelle, breit angelegte Vergleichsstudie "Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study" von R. F. Savaris, G. Pumi, J. Dalzochio & R. Kunst kann etwa keinen Effekt nachweisen – belegt keinesfalls, dass Lockdowns wirkungslos sind.

Sie deutet aber darauf hin, dass der Effekt der Saisonalität so stark ist, dass er auch aus dem Datenrauschen der empirischen Forschung heraussticht. Die Absenkung von 0,2 Punkten, die das RKI annimmt, ist möglicherweise zu gering.

Wie tragen Modelle wie das von Dirk Paessler dazu bei, diese Frage zu klären? Ein Beispiel könnte das demonstrieren. Im ersten Fall wird der saisonale Effekt stärker angesetzt – der R-Wert verringert sich zur Sommersonnenwende um 50 Prozent bei einem sinusförmigen Verlauf. Mit einem dem März ähnlichen Lockdown bis zum Jahresende ergäbe sich dann folgendes Bild:

Die Modellrechnung zeigt, dass die dritte Welle ohne Gegenmaßnahmen auch unter Annahme eine sehr starken Saisonalität von 50 Prozent noch zu untragbaren Verhältnissen auf den Intensivstationen führen würde. Im Vergleich: Bei einem Lockdown ab 26.4.2021 würde sich auch noch eine enorme Welle ergeben, aber man würde viel schneller bei niedrigen Inzidenzen ankommen. Eine vorsichtige Öffnung könnte circa sechs Wochen früher erfolgen.

Dirk Paessler hat mit seinem Modell auch schon sogenannte "Nocovid"-Strategien betrachtet und mit anderen Strategien verglichen:

Seine abschließende Analyse lautet: "Ein Lockdown mit nachfolgender Niedrig-Inzidenz-Strategie ("Nocovid") wäre die wesentlich wirksamere und risikoärmere Lösung als auf eine starke Wirkung der Saisonalität zu hoffen."