Comeback des Staates
Im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" mischt sich der Staat wieder verstärkt in die Wirtschaft und in die privaten Angelegenheiten der Bürger ein
Seit der konservativen Wende mit Reagan und Thatcher war 20 Jahre lang stets die gleiche Botschaft im Westen zu hören gewesen. Der Staat habe sich soweit wie möglich aus dem Wirtschaftsleben herauszuhalten, weil das freie Spiel der Marktkräfte die Dinge am besten Regeln würde. Der furchtbare Effekt des Einschlags der entführten Jets in drei der symbolisch aufgeladensten Gebäude der westlichen Ordnung war noch kaum verdaut, als erste Signale für eine Trendwende zu vernehmen waren. Entgegen neoliberalen Überzeugungen ist plötzlich ein starker Staat wieder gefragt.
Staatliche Stimulanzmaßnahmen für die Wirtschaft, die über geldpolitische und steuerliche Anreize hinausgehen, waren lange Zeit ein Tabu gewesen. Doch der republikanische US-Präsident George W. Bush konnte im Septembe mit breiter Zustimmung des Kongresses ein Soforthilfspaket in Höhe von 40 Milliarden Dollar verabschieden. Weitere stimulierende Maßnahmen, die an die 75 Milliarden Dollar kosten sollen, würden folgen, hieß es zunächst, doch dann zerbrach der Parteienkonsens in der US-Politik und nun streitet man über die Art zusätzlicher Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft. Davon unberührt sind zusätzliche 15 Milliarden Dollar an Unterstützung für die schnell in Bedrängnis geratenen US- Fluglinien. Bei einer so herzlichen Umarmung des Keynisianismus ist es kein Wunder, dass Gegendruck von rechter Seite kommt.
Milton Friedman, Ökonom, Nobelpreisträger und so etwas wie ein Ayatollah des Neoliberalismus, wetterte dann auch im Spiegel-Interview, die staatlichen Ausgabenprogramme wären "eine miserable Idee". Doch auch wenn er dagegen ist, auch er muss beipflichten, "die Atmosphäre hat sich seit dem 11. September vollkommen geändert."
Einen Bruch mit den Dogmen des Neoliberalismus beging die britische Regierung, zumindest in einem signifikanten Einzelfall. Ohne allzugroßen Aufruhr zu erregen (und da stand durchaus Absicht dahinter), wurde die Gesellschaft, die das Schienennetz der Eisenbahn in Großbritannien betreibt, Railtrack, über Nacht quasi wieder verstaatlicht. 1996 hatte man die Eisenbahn privatisiert und Railtrack kam die Rolle zu, das Schienennetz zu betreiben. Die börsennotierte Firma konnte weder die erforderlichen Neuinvestitionen leisten, noch das Schienennetz auf einem akzeptablem Standard erhalten, was mehrere katastrophale Unfälle zur Folge hatte. Als dann das Defizit immer disaströsere Ausmaße annahm und Railtrack vom Staat praktisch eine Art Blindgarantie zur Deckung der Verluste verlangte, zog Transportminister Byers die Notbremse. Railtrack soll nun in eine nichtkommerzielle Rechtsform überführt werden, formal zwar kein Staatsbetrieb, jedoch unter enger Aufsicht der Regierung.
In Friedenszeiten hätte Byers eine erbitterte Kampagne der City of London, des Finanzzentrums, zu erwarten gehabt. Übler Beigeschmack: Genau das erkannte dessen persönliche PR-Beraterin Jo Moore bereits eine halbe Stunde, nachdem das erste Flugzeug ins World Trade Center eingeschlagen war und als die Türme noch standen. In einer internen E-Mail an die Mitarbeiter schrieb sie, jetzt wäre "ein guter Zeitpunkt, um schlechte Nachrichten zu begraben." Als diese E-Mail bekannt wurde, gab es einen Sturm der Entrüstung und dringliche Rücktrittsforderungen an die PR-Beraterin. Diese entschuldigte sich, durfte bleiben und kurz darauf wurden die Maßnahmen bezüglich Railtrack bekanntgegeben. "Eine Verstaatlichung in allem außer dem Namen nach", nannte es der Guardian.
Neben den stimulierenden Wirtschaftsmaßnahmen ist es die Sicherheit selbst, oder zumindest das Bemühen, ein akzeptables Niveau an Sicherheit staatlicherseits zu garantieren, das eine ganze Menge Geld kostet, die Staatsausgaben in die roten Zahlen treibt und einige Wirtschaftszweige begünstigt. Die ständige Bereitschaft der Nationalgarde, der Anthrax-Bekämpfungstrupps, der Polizei und Feuerwehr verschlingen Milliarden ebenso wie die Tausenden Bomben und Marschflugkörper, die bisher auf Afghanistan abgeworfen wurden. Doch es gibt noch dickere Fische an Land zu ziehen.
Vergangene Woche erhielt Lockheed Martin den größten Militärauftrag der Geschichte - 200 Milliarden US$ für die Entwicklung der nächsten Generation an Kampfflugzeugen für die USA und Großbritannien. Neben den 3000 Stück des FSJ genannten Flugzeugs für US-Streitkräfte und 150 Stück für die britische Royal Air Force werden Exportaufträge in nochmal derselben Stückzahl erwartet. Allein in Ford Worth, Texas, das zufällig auch der Heimatstaat des derzeitigen US-Präsidenten ist, werden 32.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Doch auch Tony Blairs diplomatischer Dauereinsatz als Sonderbotschafter der USA bleibt nicht unbelohnt. Bis zu 8400 Jobs werden im Laufe der 30-jährigen Produktionsphase des FSJ-Kampfjets bei britischen Unternehmen wie British Aerospace und Rolls-Royce direkt garantiert. Der Wert der Aktien von Lockheed Martin ist seit dem 11.September bereits um 30% gestiegen, und das war noch vor der Ankündigung des gigantischen Militärauftrags.
War die "alte" New Economy gerade noch als eine konsumentenorientierte, innovationsfreudige Branche erschienen, so wird nun wieder vermehrt im Auftrag des Staates geforscht und produziert. Auch die High-Techindustrien in Silicon Valley und im Raum Boston, Massachusetts, werden ihren Teil an Rüstungs- und Forschungsaufträgen abbekommen.
Eingriff in die Privatsphäre
Abgesehen von der Wirtschaft mischt sich der Staat auch in anderen Bereichen wieder viel stärker in das Leben der Bürger ein. Mit sich stark ähnlich sehenden Gesetzespakten zur Terrorbekämpfung in einer Reihe von westlichen Staaten, darunter auch Deutschland, nehmen sich die Staaten das Recht, die Kommunikation der Bürger, egal in welchem Medium, abzuhören, aufzuzeichnen, zu analysieren. Biometrische Methoden der Identitätskontrolle sollen eingeführt werden, vom digitalen Fingerabdruck über den Iris-Scan bis hin zur automatischen Gesichtserkennung durch Überwachungssysteme an Transportknotenpunkten. Wer reist, also Grenzen überschreitet, hat gar keine andere Wahl, als sich haarfeinen Methoden der Identitätsfeststellung zu unterziehen, aber auch der Überprüfung der Motive einer Reise durch Befragungen, der Weitergabe von Reisedaten an staatliche Behörden, der Kontrolle der mitgenommenen Lektüre...
Wer nicht bloß reist, sondern in ein anderes Land ziehen will, um Bedrohung, Krieg, Unterdrückung zu entkommen oder einfach nur ein besseres Leben zu finden, hat überhaupt keine Rechte mehr, wird in Camps interniert, darf nicht arbeiten, sich nicht bewegen, hat kein Leben, all das im Namen der Staatsräson.
Doch auch die richtige Einstellung guter Bürger soll überprüft werden, wenn sie in sicherheitsrelevanten Bereichen arbeiten. Redakteure von Radio- und Fernsehstationen, Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in der Energieversorgung können nun Gegenstand der Schnüffelei von Verfassungsschutzagenten werden, nachdem die Sicherheitsüberprüfung für diese Jobs in Schilys "Otto-Katalog" Eingang fanden.
Wer garantiert, dass diese Maßnahmen wieder aufgehoben werden, wenn der Kampf gegen den Terror vorüber ist? Wer weiß, wann dieser Kampf vorüber sein wird? Wie weit kann man sich eigentlich noch polizeistaatlichen Methoden annähern, ohne ein Polizeistaat zu werden?
Eine Kriegswirtschaft im engeren Sinn haben wir noch nicht. Noch laufen keine Werbespots im Fernsehen, die zum Kauf von Staatsanleihen auffordern, noch werden keine Hochverräter verurteilt. Doch wir befinden uns auf einer schiefen Ebene, auf der wir einer immer festeren Umarmung durch die Staatsmacht entgegenrutschen.