Connewitz: Weder geplanter noch organisierter Terror
OP oder Not-OP? Spekulationen nach den "linksterroristischen" "Silvesterausschreitungen" in Leipzig
Im Leipziger Stadtteil Connewitz wurde in der Silvesternacht ein Polizist am Ohr verletzt. Er musste im Krankenhaus behandelt werden, und durfte einen Tag später wieder gehen. In der Zwischenzeit schaukelte sich in den Medien eine erregte Diskussion auf, über den Zustand des Linksextremismus in Deutschland, der als Gefahr begriffen werden solle, oder über das Vorgehen der Polizei, das provozierend, jedenfalls nicht de-eskalierend, gewesen sei.
Zudem leistete sich die Pressestelle der Leipziger Polizei ein Faux-pas, als sie am Neujahrsmorgen den Vorfall übermäßig dramatisierte, und in der Folge für Spekulationen und Fake-News, und sonstigen Irritationen, sorgte. Die Deutsche Welle etwa schrieb: "Besonders der Fall eines Polizisten aus Leipzig, dem fast das Ohr weggesprengt wurde, schockiert." Einigen Medien bedienten sich gleich heftiger Begriffe wie "linksextremistischer Terrorismus". In rechtsextremen Kreisen wurde die Fake-News, der verletzte Polizist sei gestorben, unter Applaus aufgenommen und verbreitet.
Was war geschehen?
Im 19.000-Einwohner Stadtteil Leipzigs feierten rund tausend Personen Neujahr auf den Straßen am Connewitzer Kreuz. Kurz nach Mitternacht wurden Polizisten mit Böllern und Feuerwerkskörpern beschossen. Als drei Beamte einen Randalierer festnehmen wollten, seien sie aus einer Gruppe von 20 bis 30 teilweise vermummten Tätern angegriffen worden.
Einem Polizisten wurde der Helm vom Kopf gerissen, dabei sei ihm fast das Ohr abgetrennt worden. Der Polizist habe das Bewusstsein verloren und habe operiert werden müssen. Er wurde in der Leipziger Universitätsklinik behandelt, es habe einen Eingriff an der Ohrmuschel unter lokaler Betäubung gegeben. Lebensgefahr oder ein drohender Gehörverlust hätten nicht bestanden.
Für die Rekonstruktion des Vorfalls in der Silvesternacht aufschlussreich zeigt sich ein kurzes Handyvideo, das am 06. Januar auf Zeit Online erschienen ist, und mittlerweile von mehreren Medien auf YouTube veröffentlicht wurde. Das Video sorgt für angebrachten Zweifel an die in die Kritik geratene Pressemeldung der Polizei Leipzig. Am frühen Morgen des Neujahrstages hatte sie darin vermeldet:
Kurz nach Mitternacht fanden sich über eintausend Menschen am Connewitzer Kreuz zusammen. Nachdem zuerst Silvesterfeuerwerk gezündet wurde, wurden gegen 00:15 Uhr Polizeibeamte an der Selneckerstraße und an der Wiedebachstraße massiv mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern angegriffen.
Eine Gruppe von Gewalttätern versuchte einen brennenden Einkaufwagen mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben und beschossen diese massiv mit Pyrotechnik. Ein Beamter (m/38) wurde dabei so schwer verletzt, dass er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste.
In der Tat ist in dem kurzen Video viel los, ein chaotisches Getümmel, bei dem es fast unwahrscheinlich wirkt, dass lediglich ein Polizist verletzt wurde. Zu sehen ist auch der brennende Einkaufswagen, der auf die Kreuzung geschoben wird, jedoch nicht "mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei". Ebenfalls nicht erkennbar ist ein "geplanter und organisierter Angriff". Der verletzte Polizist wird weg getragen, seinen Helm nimmt ein Kollege mit.
Einen Tag nach genannter Pressemeldung räumte bereits Polizeisprecher Andreas Loepki ein, dass der verletzte Beamte nicht notoperiert werden musste, und die Mitteilung habe jedoch fälschlicherweise den Eindruck erweckt, dass der 38-Jährige lebensbedrohlich verletzt worden sei. Dass der Begriff "Not-OP" verwendet wurde, sei der Kenntnisstand am Neujahrsmorgen gewesen, eine lebensbedrohliche Verletzung habe aber nicht vorgelegen. Doch die Pressemeldung der Polizei hatte schon längst Wellen geschlagen.
Pray for Leipzig
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärte, die Polizisten seien Opfer von "linkem Terror" geworden. Ein "bewusster und gezielter Angriff auf Menschenleben" sei das, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU). "Was wir in Leipzig-Connewitz erleben, ist ein vorläufiger Höhepunkt der Gewalt." Leipzigs Bürgermeister Burkhard Jung (SPD) sprach sogar von einer "hässlichen Fratze des Linksterrorismus".
Bundesinnenminister Seehofer verurteilte den "brutalen Angriff" aufs Schärfste. SPD-Vorsitzende Saskia Esken verurteilte ebenfalls "den Gewaltausbruch", hinterfragte aber auch die Einsatztaktik der Polizei. Zum verletzten Polizisten sagte sie: "Unsere Gedanken sind bei ihm und seinen Angehörigen."
Als "heimtückisch und hinterhältig" verurteilte Sachsens Polizeipräsident Horst Kretzschmar die Angriffe im MDR. Dabei sei die Polizei "zurückhaltend und de-eskalierend unterwegs gewesen". Die Sonderkommission Linksextremismus (Soko LinX) werde sich der Sache annehmen.
Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze sprach am 3. Januar in der Zeit von einem "geplanten und organisierten Angriff". In kürzester Zeit hätten etwa 20 bis 30 vermummte Personen die Polizei angegriffen, und seien danach sofort wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Auf Indymedia tauchte am 3. Januar ein anonymes "Bekennerschreiben" zu den Vorfällen in der Silvesternacht auf. Darin ist von zunehmender Polizeigewalt, von Repressalien und Schikanen seitens der Polizei ("Bullen") im linksgeprägten Stadtteil Connewitz die Rede. Die Verfasser beklagen die unter dem neuen Polizeipräsidenten Torsten Schultze eingeführte "Nulltoleranz-Prinzip". Am Silvestertag sei schon zuvor eine massive Polizeipräsenz und "Helikopterlärm" hinzunehmen gewesen. Ein Dialog mit der Polizei werde weiterhin abgelehnt, "solange sie ihre Uniformen tragen und ein System der Ungerechtigkeit mit Brutalität verteidigen".
In Leipzig hat es in den vergangenen Monaten wiederholt Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und der Polizei gegeben. Vor allem wurden Brände auf Baustellen gesetzt: In der Nacht zum 3. Oktober gingen drei Kräne in Flammen auf. In der Nacht zum 11. Oktober brannten zwei Bagger in Leipzig, am 13. Oktober ein weiterer Bagger. Ende Oktober wurde in Leipzig-Connewitz wieder eine Baustelle in Brand gesteckt, angegriffen wurden Polizisten und Feuerwehrleute beim Einsatz.
Anfang Dezember hatte es im Leipziger Stadtteil Lindenau einen Brandanschlag auf die Außenstelle des Sächsischen Landesamtes für Steuern und Finanzen gegeben, die auch für Zwangsräumungen zuständig ist. In einem auf Deutsch und Englisch veröffentlichten Bekennerschreiben war damals von einem "Akt der Solidarität" mit dem schwer von Gentrifizierung bedrohten Stadtteil Connewitz die Rede.
In der Silvesternacht entlud sich nun scheinbar den Frust jener, die aus ihren Viertel vertrieben werden, an denen, die als Beschützer materieller Interessen zur einfachen Zielscheibe werden. Den brennenden Einkaufswagen dekorierte symbolisch ein aufgemaltes Polizeiauto. Was die einen verschmitzt als Anspielung auf die eigentlichen Brandstifter in Connewitz verstehen, sehen andere panisch: als Bedrohung der Staatsgewalt durch den "linken Terror".
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