Corona: Monster-Bürokratie statt Teststrategie?
Papierkrieg in der Pandemie: Obwohl Bundesgesundheitsminister Lauterbach einen "schweren Herbst" fürchtet, wollte er mit einer kaum durchdachten Testverordnung Geld sparen
Wer oberhalb der Armutsgrenze lebt und das Ausfüllen von Formularen hasst, wird den Test schon lieber selbst bezahlen, statt Ansprüche geltend zu machen – so ungefähr könnte die rationale Überlegung hinter dem organisierten Chaos ausgesehen haben.
Am Donnerstag lief die bundesweite Verordnung aus, in den Kommunen grundsätzlich kostenlose Corona-Bürgertests anzubieten. Pro Testung sind seit Freitag drei Euro Eigenbeteiligung fällig – ausgenommen für Kinder bis zum Alter von fünf Jahren, Frauen zu Beginn der Schwangerschaft, Haushaltsangehörige von nachweislich Infizierten und Besucher von Kliniken und Pflegeheimen, die sich weiterhin kostenfrei testen lassen können.
Ein hoher bürokratischer Aufwand, längere Wartezeiten in Testzentren und ein großes Durcheinander waren damit programmiert. Bis zu sechsmal länger müssten die Kunden warten, Selbstauskünfte ausfüllen und Nachweise erbringen, hieß es am Freitag etwa im nordrhein-westfälischen Grevenbroich.
"Berliner Chaostage": Bayerns Gesundheitsminister als Retter
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) nutzte die Gunst der Stunde, um die Ampel-Bundesregierung und deren Ressortchef Karl Lauterbach (SPD) alt aussehen zu lassen: Die "Berliner Chaostage" dürften nicht zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen, teilte Holetschek am Freitag mit und erklärte eine Selbstauskunft für Krankenhaus- und Pflegeheimbesuche vorerst für ausreichend, um kostenlos getestet zu werden.
"Besuche in Krankenhäusern und Pflegeheimen müssen weiterhin niedrigschwellig möglich sein", so Holetschek. "Das von der Bundesregierung verschuldete Chaos bei der Testverordnung darf nicht zulasten vulnerabler Gruppen oder deren Angehöriger gehen."
Die Kommunen hatten schon Mitte Juni grundsätzliche Bedenken angemeldet, die Abschaffung der kostenlosen Testmöglichkeit für alle komme zur Unzeit: "Die kostenlosen Bürgertests sind ein erstes Frühwarnsystem, die Finanzierung über den 30. Juni hinaus sollte daher dringend durch den Bund weiter sichergestellt werden", hatte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gesagt.
Aktuell fordert der Städte- und Gemeindebund eine baldige Wiederaufnahme: "Wir gehen davon aus, dass spätestens im Herbst, wenn die nächste große Corona-Welle droht, es wieder flächendeckend unentgeltliche Tests geben muss", erklärte nun dessen Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg. Die kostenlosen Schnelltests seien ein wichtiger Baustein für die Pandemiebekämpfung, gab er zu bedenken.
Auch Deutschlands Kassenärztliche Vereinigungen hatten an der neuen Testverordnung kein gutes Haar gelassen und angekündigt, ab sofort die Abrechnung der Bürgertests zu boykottieren.
"Praxen sind keine Kontrollbehörde"
"Nach sehr sorgfältiger Prüfung der neuen Testverordnung müssen wir Ihnen vor dem Hintergrund der schon jetzt bestehenden, eklatanten Betrugsproblematik mitteilen, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen Bürgertestungen zukünftig nicht mehr abrechnen und auszahlen können", zitierten am Freitag mehrere Medien aus einem Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach.
"Die Praxen sind keine Kontrollbehörden und leiden jetzt schon unter der massiven Bürokratie", sagte KBV-Chef Dr. Andreas Gassen laut einem Bericht der Berliner Zeitung "Wie soll am Empfangstresen geprüft werden, ob jemand beispielsweise einen Besuch bei einem Vorerkrankten plant und sich deshalb testen lassen will?", so Vizechef Dr. Stephan Hofmeister. Die Arztpraxen sollten nun "genau prüfen, ob sie Bürgertestungen weiterhin anbieten" - verpflichtet seien sie dazu nicht.
Lauterbach, der nach eigenen Worten selbst einen "schweren Herbst" mit hohen Corona-Inzidenzen befürchtet, kann die wenig durchdachte Sparidee beim "Team Vorsicht" jedenfalls Glaubwürdigkeit kosten.