Corona-Pandemie: Streit um Lauterbachs Impfstrategie

Verband der Kassenärzte widerspricht Aufruf für zweiten Booster unter 60. Kontroverse über Verlaufsprognose Ende des Jahres. Hat der Gesundheitsminister zu viele Impfdosen bestellt?

Sollten sich möglichst viele Menschen angesichts einer möglichen neuen Corona-Welle im Herbst alte Impfstoffe verabreichen lassen, um eine erneute Zuspitzung der pandemischen Lage verhindern zu helfen? Diese Position des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) stößt derzeit in Politik und Medizin auf Kritik – und das auf mehreren Ebenen.

Lauterbach hatte unlängst auch Menschen unter 60 Jahren dazu aufgerufen, sich eine zweite Auffrischungsimpfung verabreichen zu lassen. Damit könne einer erneuten schweren Infektionswelle im Herbst und Winter entgegengewirkt werden, so der SPD-Politiker.

Dieser Vorstoß, der von Lauterbach nicht weiter begründet oder mit wissenschaftlichen Daten untermauert wurde, stieß umgehend auf Kritik politischer Vertreter und medizinischer Experten. Nun hat auch der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, den Impf-Aufruf des Gesundheitsministers an unter 60-Jährige zurückgewiesen. "Unter anderem aus israelischen Studien wissen wir, dass ein zweiter Booster bei jüngeren Gesunden nicht sinnvoll ist", sagte Gassen gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ).

Lauterbach sei mit seiner Empfehlung zum zweiten Booster in Fachreisen "ziemlich exklusiv unterwegs", fügte Gassen an, um dann konkreter zu werden: "30- oder 40-Jährigen pauschal eine vierte Impfung zu empfehlen, das halte ich für falsch."

Parallel wird die Debatte um eine adäquate Strategie zu Eindämmung der Pandemie und zum gleichzeitigen Schutz des Gesundheitswesens vor einer weiteren Überlastung mit zunehmender Härte geführt. So hatte Gassen im Gespräch mit der NOZ auch eine Aufhebung aller Corona-Isolations- und Quarantänevorgaben gefordert.

Infektionen mit dem Sars-CoV-2 verliefen zunehmend mild, argumentierte Gassen: "Und wir sind das letzte Land in Europa, das noch derart aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert." Würden die Quarantäne-Maßnahmen auch hierzulande gelockert, "würde die Personalnot vielerorts gelindert", so Gassen weiter: "Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit."

Welche Anzahl von Impfdosen ist nötig und angemessen?

Lauterbach trat dieser Position entschieden entgegen. "Infizierte müssen zu Hause bleiben", schrieb er auf Twitter, "sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr, sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko."

Gassen hielt dem entgegen, dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen auch bei anderen Infektionskrankheiten zur Arbeit gingen, wenn sie sich gesund fühlten "So halten wir es mit der Grippe auch." Zudem seien die Corona-Verläufe trotz hoher Infektionszahlen "fast immer milde".

Zugleich sei es aber ein Problem für Einrichtungen des Gesundheitswesens, "dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben (und) in Isolation geschickt werden". Diese Politik provoziere "Personalengpässe in den Kliniken und anderswo".

Für Kontroversen mit der KBV sorgt auch die grundsätzliche Impfstrategie des Bundesministers. Durch die Orientierung auf Massenimpfungen und entsprechende Großbestellungen relativ alter Impfstoffe würden bis zu einhundert Millionen Euro verschwendet, hieß es von dieser Seite.

So plane Lauterbach mit bis zu 60 Millionen Impfungen im Herbst und Winter. Nach einer Kalkulation der KBV ist aber nur von maximal 30 Millionen Impfungen auszugehen, so Gassen: Dabei seien eine zweite Auffrischungsimpfung für Patientinnen und Patienten ab 60 Jahren, ein erster Booster für alle Jüngeren und ein großes Kontingent für Ungeimpfte eingerechnet.

Die Kassenärzte gehen davon aus, dass das Ziel der Bundesregierung von 50 bis 60 Millionen Impfungen unrealistisch ist. Sollte Lauterbach mehr als 200 Millionen Dosen bestellt haben, "ist zu erwarten, dass Impfstoff im Wert von möglicherweise hundert Millionen Euro oder mehr weggeworfen werden muss", so Gassen.

Nicht auszuschließen ist, dass Lauterbach im Vergleich zu seinem Vorgänger Jens Spahn ins gegenteilige Extrem verfällt. Mitte Dezember vergangenen Jahres hatte er dem CDU-Politiker indirekt vorgeworfen, 20 Millionen Impfdosen zu wenig bestellt zu haben.