Je mehr Corona-Impfungen, desto besser?

Lauterbach für vierte Impfung gegen Covid-19. Aufruf sorgt für Widerspruch aus Fachgremien und Parteien. Kommunikation des Ministers sorgt für Kritik.

Nach dem jüngsten Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach für eine vierte Impfung gegen Sars-CoV-2 muss sich der SPD-Politiker breite Kritik aus Politik und Medien gefallen lassen. Lauterbach hatte sich Ende der Woche dafür ausgesprochen, dass die Maskenpflicht auch im Sommer wieder ausgeweitet wird und Menschen ab 60 Jahren eine zweite Auffrischungsimpfung erhalten.

Das wäre nach meist zwei Dosen der Erstimpfung und einer in der Regel bereits erfolgten Auffrischungsimpfung die bereits vierte Dosis.

Erneut warnte der promovierte Mediziner Lauterbach in deutlichen Worten vor einer Zuspitzung der Lage im Laufe dieses Jahres. "Wir werden einen sehr schweren Herbst haben", so der SPD-Politiker gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel.

Zugleich sprach Lauterbach von umfassenden Schutzmaßnahmen, die seitens der Bundesregierung in Vorbereitung seien. Ausdrücklich sprach er sich gegen die Akzeptanz einer sogenannten Durchseuchung der Bevölkerung aus. Es gebe, so sagte er mit Blick auf Daten des Robert-Koch-Instituts, einen ungebrochen hohen Infektionsdruck.

Der Bundesgesundheitsminister sagte dazu, er rate allen ab 60 Jahren zur vierten Impfung, "weil dann die Sterblichkeit deutlich reduziert werden kann". Er würde dies "in Absprache natürlich mit dem Hausarzt" auch jüngeren Menschen mit einer ersten Auffrischungsimpfung, auch als "Booster" bezeichnet, empfehlen. Dadurch könne das Infektionsrisiko für einige Monate deutlich reduziert werden. Im Gespräch mit dem Spiegel pries er die Viertimpfung zudem mit dem Argument an, dass das Risiko eines Long-Covid-Syndroms dann geringer sei.

Die Kritik an dieser sehr konkreten Aufforderung des Bundesministers ließ nicht lange auf sich warten. Dazu trägt zum einen bei, dass die Erkenntnisse über Bedrohung durch das Virus und den Schutz einer Viertimpfung mitnichten klar sind. So hängt die Schutzwirkung vor allem auch davon ab, ob und wie ein Impfstoff an aktuelle Virusvariationen angepasst ist – so wie dies bei Grippeimpfstoffen regelhaft geschieht.

Erhöhte Gefährdung ab 60 Jahre

Für die Aufforderung spricht, dass ältere Männer nach wie vor besonders bedroht sind. Die Seite spektrum.de berichtete im September 2020 unter Bezug auf eine US-Studie, dass von eintausend mit dem Coronavirus infizierten Menschen unter 50 Jahren im Schnitt weniger als einer stirbt.

Bei Menschen jenseits der 50 hingegen ist das anders: hier sterben durchschnittlich 5 von 1000, unter ihnen mehr Männer als Frauen. Das Risiko steigt dann mit zunehmendem Alter steil an. Von 1.000 Infizierten ab Mitte 70 sterben im Schnitt 116 Menschen. Diese Zahlen stammen aus den ersten detaillierten Studien über das Sterblichkeitsrisiko für Covid-19.

Auch wenn diese Ergebnisse zwei Jahre als sind, hat sich an der Gefährundungslage für diese Altersgruppe grundlegend nichts geändert. Auf der Seite zusammengegencorona.de des Bundesgesundheitsministeriums heißt es dazu mit Stand 10.07.2022: "Alle Altersgruppen können sich infizieren und erkranken. Besonders gefährdet für einen schweren Verlauf sind Menschen höheren Alters (60+) und jene, die bereits von Vorerkrankungen betroffen sind."

Weil diese Gefährung aber nur für eine spezifische Altersgruppe gilt, wandte sich der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, gegen eine breitangelegte Kampagne für eine Viertimpfung auch für jüngere Menschen. Gegenüber der Tageszeitung Welt am Sonntag sagte er, es gebe seinen Kenntnissen nach keine Daten, die Lauterbachs Aufruf für eine zweite Auffrischungsimpfung auch für jüngere Patienten rechtfertige: "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen nach dem Motto "Viel hilft viel" auszusprechen".

Die Stiko rät bislang nur für Über-70-Jährige und einige Risikopatienten zu einer zweiten Auffrischungsimpfung. Allerdings hatten sich EU-Fachbehörden unlängst für eine weitere Auffrischung ab 60 Jahren ausgesprochen.

Die Empfehlung des Fachgremiums bietet bislang für zahlreiche Ärzte in Deutschland eine Orientierung, zumal viele von ihnen dem Bundesgesundheitsminister nicht mehr trauen.

Im April dieses Jahres war vor dem Hintergrund seines umstrittenen Krisenmanagements das in der Ärzteschaft zunächst positive Bild von Lauterbach massiv eingebrochen. Laut einer Umfrage des Ärztenachrichtendienstes glaubte zu diesem Zeitpunkt nur noch jeder fünfte Mediziner (21 Prozent), dass der SPD-Gesundheitsminister "durch sein politisches Wirken Maßnahmen umsetzen oder einleiten wird, die zu einer Verbesserung der Patientenversorgung in Deutschland beitragen können".

Schwindendes Vertrauen in Lauterbach

14 Prozent trauen sich nach Angaben des Fachportals noch kein Urteil zu dieser Frage zu. Eine deutliche Mehrheit von 65 Prozent ist überzeugt, dass Lauterbach mit seinem Politikstil keine Verbesserungen erreichen wird, so der Ärztenachrichtendienst, bei dem es weiter heißt:

Eine Ohrfeige, die sich bei der nächsten Frage gleich wiederholt: 67 Prozent der befragten Ärzte glauben nicht, dass der Lauterbach derzeit die Sorgen und Probleme der Ärzteschaft ernst nimmt. 15 Prozent sind sich in dem Punkt nicht sicher - und lediglich 18 Prozent bescheinigen dem 59-jährigen Sozialdemokrat den richtigen Blick auf die Berufsgruppe.

Dieses negative Bild dürfte die Wirkung von Lauterbachs Aufruf in der Ärzteschaft schmälern. Dennoch versucht der Bundesgesundheitsminister, seine Linie weiter durchzusetzen. Eine Impfentscheidungen, sagte er, sei immer eine Entscheidung zwischen Arzt und Betroffenen. Die Stiko spreche ja nur Empfehlungen "im Allgemeinen" aus.

Für Debatten aber dürfte zudem Lauterbachs Aussage sorgen, Menschen über 60 Jahre sollten nicht erst auf Impfstoffe warten, die an neuere Virusvarianten angepasst sind. Ein erstes entsprechendes Präparat wird nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums Anfang September erwartet, ein zweites Präparat einen Monat später.

Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts haben die zweite Auffrischungsimpfung in Deutschland inzwischen knapp 6,2 Millionen Menschen oder 7,5 Prozent der Bevölkerung erhalten. Bei den Über-60-Jährigen liegt diese Quote bei 21,3 Prozent.

Für Spannungen sorgt der Corona-Kurs vor allem zwischen dem SPD-Minister und der Koalitionspartei FDP. Deren Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hatte sich unlängst wiederholt gegen erneute Corona-Maßnahmen zum Herbst hin ausgesprochen. Lauterbach sagte im Gespräch mit dem Spiegel, Kubicki vertrete "epidemiologisch und virologisch abwegige Positionen". Sie seien "auf jeden Fall Quatsch".


Redaktionelle Anmerkung: Die Studie aus den USA, die spektrum.de erwähnt, ist von 2020. Wir haben eine aktuelle Einschätzung dazu ergänzt.