Corona-Verschleierung in der Türkei
Erdogans Spiel scheint ausgespielt. Die Corona-Fälle steigen auch in der Türkei, trotz gefakter Zahlen exponentiell. Update
Bis Dienstagabend 22 Uhr verzeichnete am Dienstag die Hopkins Universität lediglich 47 Corona (COVID-19) Fälle in der Türkei. Fünfzehn Minuten später sprach der türkische Gesundheitsminister von 98 Infizierten. Es mehren sich jedoch die Indizien, dass diese Zahlen nicht der Realität entsprechen.
In den letzten Tagen stieg die Zahl der Infizierten in den Ländern rund um die Türkei - mit Ausnahme von Syrien, wo es bislang keine Daten gibt - zum Teil rasant. Nur in der Türkei schien das Virus keine Rolle zu spielen.
Am Mittwochabend gab Gesundheitsminister Fahrettin Koca zwei Todesfälle infolge von covid-19 bekannt, 93 neu gemeldete Fälle von Infizierten bekannt und eine Gesamtzahl von 193 Infizierten. Die Cumhuriyet berichtete am Dienstag von zurückkehrenden Mekka-Pilgern aus Erzurum, die unter Quarantäne gestellt werden sollten. 28 Personen soll die Flucht mit einem Bus gelungen sein. In der Stadt Corum wurden sie jedoch gestoppt.
Die Junge Welt spricht von rund 10.000 Pilgern, die allein am Sonntag unter Quarantäne gestellt wurden, nachdem bei einem Mekka-Reisenden eine Infektion festgestellt wurde. Um die Pilger unterzubringen, mussten Tausende Studenten mitten in der Nacht ihre Wohnheime in Ankara, Kayseri und Konya verlassen, damit dort die Pilger untergebracht werden konnten.
Ein besonders wichtiges Phänomen in diesem Zusammenhang sind 10 taiwanesische Bürger, die mit dem Corona-Virus aus dem Urlaub zurückkehrten. Nach einem Bericht des Taiwan Epidemic Command Center (CECC) waren 9 von ihnen vorher in der Türkei und einer in Ägypten.
Stellt man die 9 infizierten Taiwanesen in Relation mit der Zahl der offiziell bekannt gegebenen Infizierten in der Türkei, erscheint die lange niedrig gehaltene Anzahl der Corona-Fälle eher unglaubwürdig. Wahrscheinlich muss man von einer größeren Dunkelziffer Infizierter ausgehen.
Mittlerweile wurde auch bekannt, dass sich ein bekannter türkischer Internist und Professor der medizinischen Fakultät Istanbul Capa infiziert hat. Professor Dr. Tascıoglu ist der erste infizierte Mitarbeiter im türkischen Gesundheitswesen. Das deutet darauf hin, dass es schon länger Patienten in den Kliniken der Türkei mit einer Corona-Infektion gegeben haben muss, die jedoch nicht beachtet wurden.
Lange, viel zu lange wurde in der Türkei die Existenz des Corona-Virus verschwiegen und die Gefährlichkeit heruntergespielt. Noch letzte Woche bestritt Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass es in dem Land Fälle von Infizierten gebe.
Tests: Ankara hat das Wahrnehmungs-Monopol
Keine Überraschung bei der repressiven Medienkontrolle, die Erdogan ausübt: Die laute Kritik kommt von außen. Der US-Journalist Michel Rubin beschuldigt Erdogan in der neokonservativen Publikation The National Interest, dass er mit 80 Millionen Leben in der Türkei spiele. Er beruft sich dabei auf den pädiatrischen Herz-Thorax-Chirurgen Ergin Kocyildirim der medizinischen Fakultät der Universität Pittsburg. Dieser bezichtigt die türkische Regierung, mit deren Behauptung, ein wirksames Testkit eingerichtet zu haben, der Betrügerei.
Tatsächlich liegt das Monopol für die Tests einer türkischen Firma beim Staat. "Alle Überprüfungen, die mit einem von einer türkischen Firma hergestellten Kit durchgeführt werden, müssen zur Auswertung an eine zentrale Stelle in Ankara geschickt werden", berichtet die Junge Welt.
Bis Ende letzter Woche wurden aber erst 2.500 Tests in der gesamten Türkei durchgeführt. Der Türkische Medizinerverband bat die Regierung, schwerpunktmäßig Massentests in Anatolien zu machen. Der Bitte des als oppositionell geltenden Verbandes wurde bis heute nicht stattgegeben.
Verhaftungen und die türkischen Gene, die gegen Sars-CoV-2 immun sind
Die niedrigen Zahlen von Infizierten beschäftigten sehr schnell kritische Journalisten im In- und Ausland. Reflexartig reagierten die türkischen Behörden mit Verhaftungen jener, die kritische Fragen stellten und andere Zahlen in Umlauf brachten.
Revolverblätter und die staatlich kontrollierte Presse behaupteten, die türkischen Gene würden die meisten türkischen Völker gegen das Virus immun machen. Das kommt gut in der gebeutelten türkischen Bevölkerung an, die unter der von Erdogan zu verantwortenden Wirtschaftskrise zu leiden hat.
Eine weitere Beruhigungspille sind rund 80.000 Moscheen des Religionsamtes Diyanet, die weiter geöffnet bleiben, während Schulen und Universitäten, Teehäuser und Nachtclubs seit Wochenbeginn geschlossen sind. Hunderte oder Tausende von Gläubigen versammeln sich dort regelmäßig zu gemeinsamen Gebeten - und sind damit eine mögliche Quelle für die weitere Verbreitung des Virus.
Arroganz, Ignoranz und Unwissenheit teilt der türkische Präsident mit dem amerikanischen Präsidenten auch in der jetzigen weltweit heiklen Situation. Sie kann in einer Weltwirtschaftskrise enden, wenn jetzt nicht alle Staaten ihren Egoismus zugunsten einer gemeinsamen Bekämpfung der Pandemie aufgeben. Pandemie heißt ja übersetzt eine weltweite Epidemie, die nicht vor Staatsgrenzen Halt macht.
Ein anderes Moment für das Herunterspielen der Gefahr wird auch die Angst Erdogans und seines AKP-Netzwerks sein, die ihn angesichts des ständigen Abwärtstrends der türkischen Wirtschaft zu immer waghalsigeren Eskapaden treibt. Die Pandemie kann zu einem Zusammenbruch der türkischen Tourismusindustrie führen.
Die gefährdete Tourismus-Branche
Das mag ein wichtiger Grund gewesen zu sein, mit Blick auf die russischen, deutschen und amerikanischen Touristen die Corona-Gefahr herunterzuspielen. Die Aufsichtsbehörde für Banken (BDDK) prognostiziert der Tourismusindustrie zum Ende des Jahres 75,2 Milliarden Türkische Lira (1 Euro = 7,02 TL) Schulden an Barkrediten. Davon betroffen sind auch die Gastronomiebetriebe rund um die Touristenzentren, was die Schulden auf 95,5 Milliarden TL erhöhen könnte.
In den Staatsmedien der Türkei wird stets ein Bild des Wachstums vermittelt, tatsächlich sind seit 2017 die Schulden um 46% gestiegen. In den letzten zwei Jahren sind von der Verschuldung vor allem die Touristenzentren rund um Antalya betroffen. Ende 2019 betrugen die Bankschulden allein in Antalya 35,5 Milliarden TL. Im Vergleich dazu betrug die Verschuldung 2017 "nur" 19,9 Milliarden TL.
Es gibt also eine Steigerung der Verschuldung allein im Tourismussektor um 78,4%. Für die ohnehin eher prekär Beschäftigten in der Tourismusindustrie fallen harte Zeiten an: Osterurlauber bleiben weg, weil die Grenzen geschlossen sind.
Ausgespielt?
Für die Beschäftigten in der Branche eine Katastrophe, denn in der Regel arbeitet das Personal nur 6 Monate im Jahr und hat für die restlichen Monate keine finanzielle Absicherung. Aber das trifft längst nicht mehr nur türkische Staatsbürger, sondern auch die syrischen Migranten, die für viel weniger Lira zu arbeiten bereit sind. Man kann davon ausgehen, dass Touristen auch in den Sommerferien weitgehend fernbleiben.
Erdogans Spiel scheint ausgespielt. Die Corona-Fälle steigen auch in der Türkei, trotz gefakter Zahlen exponentiell. Rubin berichtet über Schätzungen eines türkischen Arztes, dass inzwischen bis zu 60 Prozent der Türken infiziert sein könnten.
Nicht auszumalen, was das bei einer Bevölkerung von ca. 80 Millionen für Folgen hat. Erdogan wird wie jeder Despot bemüht sein, keine realen Zahlen zu liefern, damit das Ausmaß der Katastrophe nicht bekannt wird. Allein die Zahl der Toten, die an "Lungenentzündung" gestorben sind, wird das wahre Ausmaß in der Türkei zeigen. Wenn nicht auch dabei die Zensur die Feder führt.
Nachtrag/Update
Der Tagesspiegel berichtet, dass mittlerweile in der Türkei die Freitagsgebete und andere gemeinsame Gebetsveranstaltungen untersagt sind. Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels war dies der Autorin noch nicht bekannt.
Laut der Zeitung haben Kritiker "Erdogans islamisch verwurzelter Regierungspartei AKP in den vergangenen Tagen vorgeworfen, in der Corona-Krise mit zweierlei Maß zu messen, weil sie Fußballspiele in leeren Stadien austragen ließ, Massenversammlungen in den Moscheen aber weiter duldete...". Nach offiziellen Angaben zähle die Türkei bisher lediglich 18 Corona-Infektionen und keine Todesfälle. Es gebe aber erhebliche Zweifel an den Zahlen. Der Vorsitzende der türkischen Ärztekammer, Sinan Adiyaman, berichtete im Fernsehsender Tele1, es gebe sehr viel mehr Fälle als offiziell zugegeben.
In einer türkischen Großstadt sei die Zahl der Infektionen "explodiert“, doch die Regierung halte die tatsächliche Zahl der Ansteckungen geheim. Welche Stadt er meinte, sage Adiyaman nicht.