Corona: Wege aus der zweiten Welle
Strategien für den Winter: mehr Technik, mehr Eigenverantwortung
Die Daten der Nachbarländer, welche trotz härterer Lockdown-Maßnahmen verhältnismäßig mehr Tote zu beklagen haben, zeigen, dass Deutschland nicht alles falsch macht. Dennoch sind die Auswirkungen auch hier eine Größenordnung schlimmer als beispielsweise in Japan, der Vergleich mit Asien bleibt peinlich; auch der seit Anfang November in Kraft gesetzte "Lockdown light" trifft viele einschneidend, sodass eine effiziente Strategie gegen die Pandemie nach wie vor wichtig ist.
Ein großer Unterschied zum Frühjahr besteht in der Verfügbarkeit von Masken, was den Anstieg der zweiten Welle erheblich verlangsamt hat. Auch wurde durch das flächendeckende Tragen von Masken im Unterricht ein geregelter Schulbetrieb überhaupt erst wieder möglich, was viele gesellschaftliche Folgeschäden vermeidet.
Allerdings gibt es hier schon die ersten großen Versäumnisse: Die Versorgung mit ausreichender Frischluftzufuhr, schon vor der Pandemie ein Problem in vielen Klassenzimmern, wurde von den Verantwortlichen vollkommen verschlafen. Notlösungen wie Stoßlüften alle 20 Minuten werden in den nächsten Monaten zunehmend schwieriger, Sofortprogramme mit CO2-Ampeln (Indikator für ausgeatmete Luft), Ventilatoren und Luftfiltern wären dringend notwendig. Mit Vorschlägen wie Klassenteilungen, welche die Schulen in ein Organisationschaos stürzen, oder gar der Idee, das Schuljahr zu "wiederholen" (wieso beschließt die Welt nicht überhaupt, das ganze Jahr 2020 zu wiederholen?), überzeugen die Lehrerverbände dagegen nicht.
Öffentlicher Raum - öffentliches Recht, privater Raum - Privatrecht
Wie in Schulen, ist die Tragepflicht von Masken im gesamten öffentlichen Raum (bei großer Personendichte auch im Freien) ein effizientes Mittel, die Verbreitung einzudämmen. Der öffentliche Raum, wozu auch der Arbeitsplatz zählt, ist daher der geeignete Ort für entsprechende Vorschriften, die dort auch konsequent durchgesetzt werden können. Hier dürften wenige widersprechen.
Das Problem der zweiten Welle lag jedoch überwiegend im privaten Raum. Es ist wohl eine Illusion zu glauben, das Verhalten der Bevölkerung würde ohne Leichenberge wenigstens in den Nachbarländern vorsichtig werden. Staatliche Eingriffe in den privaten Raum sind aber ungleich schwerer zu rechtfertigen, was ein Dilemma darstellt. Unsere gesamte Rechtsordnung lässt gesundheitsgefährdendes Verhalten des einzelnen im privaten Bereich zu, sei es bei Alkohol, Zigaretten oder auch Risikosportarten. Das kann man gut finden oder nicht, aber Regelungen und Kontrollen sind in einer freiheitlichen Demokratie schwer zu realisieren.
Konkret auf Corona bezogen, lassen sich generelle Einschränkungen der Mobilität oder der privaten Kontakte noch nicht einmal sachlich rechtfertigen, weil diese ja durchaus so gestaltet werden können (Masken, Abstand, Frischluft), dass das Infektionsrisiko marginal bleibt. In jedem Fall wäre es noch ein milderes Mittel, die laxen Quarantäneanordnungen besser zu kontrollierten. Thomas Pueyo wundert sich zu Recht, warum manche europäische Länder lieber die ganze Bevölkerung einsperren, als die Quarantäne einzelner durchzusetzen.
Eine rechtsstaatliche Lösung des Dilemmas kann wohl nur so aussehen, den Bürgern eine gewisse Freiheit zur (privaten) Irrationalität zu lassen. Als Konsequenz müsste dem einzelnen allerdings auch mehr Verantwortung übertragen werden. Es ist eigentlich unverständlich, warum die Nachverfolgung der privaten Infektionsketten in Zeiten moderner Telekommunikation nicht besser gelungen ist.
Wider die Pandemie der Bürokratie
Eine zu hinterfragende Rolle spielen dabei wohl die Gesundheitsämter, auf die diese Verantwortung größtenteils abgewälzt wird. Obwohl deren Mitarbeiter sicher Außergewöhnliches geleistet haben, muss man die Effizienz dieses Systems ehrlich bewerten, das letztlich vor Neuinfektionen warnen soll. Dafür gibt es ein äußerst kurzes Zeitfenster: gewöhnlich zwei Tage zwischen der Infektiösität und den ersten Symptomen, bei asymptomatischen Verläufen wenige Tage mehr.
Schon dadurch wird klar, dass die erfreulicherweise erhöhten Testkapazitäten wenig bringen, wenn durch Warten auf den Test und auf das Ergebnis mehrere Tage vergehen. Werden dann erst umständlich Kontakte gemeldet und diesen durch Überlastung verspätet nachtelefoniert (was ja oft vorkam), wird der ganze Aufwand plötzlich sinnlos. Viele scheinen sich jedoch gerade auf die oft ineffiziente Tätigkeit der Ämter zu verlassen, was ein zusätzliches Risiko darstellt. Wertvolle Zeit könnte gewonnen werden, wenn die Kommunikation direkt erfolgt.
Die Verantwortung für die private Kontaktnachverfolgung müsste daher viel expliziter dem einzelnen übertragen werden. Die gesetzlichen Grundlagen dafür sind im Übrigen weitgehend vorhanden. Wenn die Person A nach Kenntnis ihrer Infektion (Test, Symptome) eine Kontaktperson B nicht warnt und diese daher eine weitere Person C infiziert, kann das eine fahrlässige Körperverletzung darstellen, jedenfalls entsteht ein Schadensersatzanspruch. Auch wenn der Nachweis im Einzelfall schwierig sein wird, würde der ausdrückliche Hinweis auf eine Warnpflicht doch sehr helfen.
Voraussetzung dafür wäre auch eine Klarstellung, dass das Datenschutzinteresse an der Geheimhaltung der eigenen Infektion hier unterzuordnen ist. Wie auch von Julian Nida-Rümelin jüngst bemerkt, kann es nicht sein, dass Rücksicht auf den Datenschutz in einem so engen Bereich letztlich zum Aushebeln von viel schwerer wiegenden Grundrechten führt. Gegebenenfalls müsste dies noch gesetzlich klargestellt werden. Im Vermeiden der privaten Ansteckungen durch Abstand, Maske und Frischluft liegt der Schlüssel zur Eindämmung. Wenn sich hier ein Konsens in der Bevölkerung bildet, würden die Ansteckungen schnell zurückgehen.
(K)ein Software-Entwicklungsland
Natürlich erhebt sich hier wieder die Frage, warum diese Warnungen nicht automatisiert, sprich durch Corona-App erfolgen. Bei der Installationsrate von 30 % werden jedoch nur 10 % aller Kontakte erfasst, ganz abgesehen von den fehlenden Mitteilungen der Infektion. Dies macht die App weitgehend wirkungslos. Dem könnte man entgegenwirken, indem man die Installation auf allen Mobiltelefonen obligatorisch macht, jedoch die sofortige Deinstallation (mit Nachweis) erlaubt. Damit ist denjenigen gedient, die die App aus Datenschutzgründen nicht wollen, es wird aber vermieden, dass sie nur aus Trägheit nicht installiert wird.
Das Entwickeln von Softwarelösungen gehörte bisher nicht zu den Stärken Deutschlands in der Pandemiebekämpfung. Unverständlich ist, warum man noch nicht zu einem System übergegangen ist, bei dem das individuelle Testergebnis durch Eingabe eines Codes im Internet zentral abgefragt werden kann. Auch nach Löschung des personalisierten Datenanteils hätte man damit auch ein Bild der Infektionsentwicklung in Echtzeit, was viele Entscheidungen erleichtern würde, die bis jetzt durch den peinlichen "Meldeverzug" des RKI behindert werden.
Konkrete Vorschläge:
- Schulen im Regelbetrieb geöffnet lassen, Maskenpflicht, Sofortprogramm für bessere Belüftung durch Ventilatoren, Luftfilter etc.
- Öffnung von Gastronomie/Dienstleistungen bei ausreichender Luftwechselrate.
- Keine allgemeinen Mobilitätsbeschränkungen, keine formalen Kontaktbeschränkungen bezogen auf Haushalte, aber keine Großveranstaltungen.
- Dringende Empfehlung, bei jedem Kontakt, auch privat, durch Abstand, Maske und Belüftung das Infektionsrisiko zu minimieren.
- Gesetzliche Verpflichtung, bei Symptomen oder positivem Test Kontaktpersonen unverzüglich zu verständigen. Kein Recht auf Geheimhaltung einer Corona-Infektion.
- Installationspflicht der Corona-App mit Option der Deinstallation (erfordert allerdings - eine gesetzliche Grundlage).
- Testmöglichkeiten rund um die Uhr ohne Termin, Ergebnisse innerhalb 24 h im Internet abrufbar, Erhebung von Echtzeit-Infektionsdaten. - Evaluierung der Massen-Schnelltestungen Slowakei/Südtirol, ggfalls Durchführung.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.
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