Corona in Italien: Was sich verändert hat

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Italien erlebt derzeit einen Anstieg der Neuansteckungen - Interview mit Dr. Adriano Peris, Leiter der Intensivstation für Trauma und schweres Organversagen an der Universitätsklinik Careggi in Florenz

Könnten Sie uns einen kurzen Überblick über die Anzahl der stationären Covid-Patienten in der Toskana geben?
Adriano Peris: In der Toskana gab es während der gesamten Pandemiezeit etwa 260.000 positive Covid-Patienten. Vorab eine wichtige Information: Gestern (das Interview wurde am 12. August durchgeführt, Anm. d. Red.) wurden 500 Fälle mehr als noch vor wenigen Tagen gemeldet. Das entspricht einem Anstieg von 0,5 Prozent im Vergleich zum Vortag. Derzeit ist die Anzahl der Genesenen geringer, da wir uns in diesem Moment in einer akuten Krankheitsphase befinden.
Es erkranken mehr Menschen, als sie genesen. Gestern sind in der Toskana rund 6.000 Tests durchgeführt worden. Eine Zahl, die der in den anderen italienischen Regionen entspricht. Die Zahl der Krankenhaus-Einweisungen steigt zwar, aber viel langsamer als bei den früheren Pandemie-Peaks. Die Spitzenwerte lagen bei 275 Eingewiesenen am 29. März 2020, 296 am 21. November 2020 und 286 im April 2021. Das waren die drei Spitzen. Von den derzeit 290 stationären Patienten liegen etwa 15 Prozent in den Intensivstationen.
Dieser Peak ist im Vergleich zu den vorherigen Peaks anormal und lässt sich vielleicht damit erklären, dass wir immer noch Patienten aus dem vorangegangenen Peak im Krankenhaus haben; dann sind da noch die ECMO-Patienten (extrakorporale Membranoxygenierung), da Careggi ein ECMO-Referenzzentrum ist, in dem ausgewählte Rescue-Therapien durchgeführt werden. Wir haben also einen Patientenpool von früher, dem sich neue Patienten hinzufügen.
Das Phänomen entwickelt sich langsam und ist daher perfekt absorbierbar, jedoch ist es aus organisationspsychologischer Sicht sowohl für die Krankenhausangestellten als auch für die Patienten und die Angehörigen sehr belastend, da Nicht-Covid-Patienten genau wissen, dass sie sich in ein Covid-Krankenhaus begeben. Während andere Krankenhäuser, wie etwa das in Borgo San Lorenzo oder in Grosseto, "Covid-frei" sind, ist Careggi eben nicht "Covid-frei".
Beeinträchtigt dies das Krankenhausleben?
Adriano Peris: Das betrifft die gesamte Krankenhausorganisation. Wir haben zwei Sektoren, einen größeren, den Nicht-Covid-Sektor und den Covid-Sektor. Die Covid-Station beansprucht ungleich mehr Ressourcen jeder Art: Locked-in-Technologien, Transportmittel, Schutzvorrichtungen usw. ...
Vor allem jetzt in der heißen Jahreszeit ist das ein großes Problem. Diese Situation wird vom gesamten Personal als schwierig empfunden. Es sind z.B. mehr Schichten als normal erforderlich - es ist nämlich undenkbar, Ärzte und Pfleger in Covid-Schichten von sechs Stunden arbeiten zu lassen. Das ist nicht machbar.

"Der Prozentsatz der Hospitalisierung liegt bei 10 Prozent"

Welche Provinzen haben die höchsten Fallzahlen?
Adriano Peris: Die Toskana liegt mit ihren Fallzahlen in Italien an 12. Stelle; das heißt, wir haben 7.000 positive Fälle pro 100.000 Einwohner. Der italienische Durchschnitt liegt bei 7.500 pro 100.000 Einwohner. Die Provinzen mit der höchsten Rate sind Prato mit etwa 10.000 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die Stadt Grosseto hat die wenigsten Fälle.
Es ist sehr interessant, dass 35 Prozent der Patienten asymptomatisch sind, wobei wir mit "Covid-Patient" alle Personen mit einem positiven Testergebnis meinen. Diese können natürlich zu Hause bleiben. Etwa 50 Prozent von ihnen klagen über leichte Symptome wie Halsschmerzen, Durchfall, Müdigkeit usw.. Ein Prozent der Patienten hingegen hat Husten.
Husten ist immer ein wichtiges Warnsymptom, weil es ein Zeichen dafür ist, dass die Atemwege, also das eigentliche Ziel des Virus, angegriffen sind. In der vorangegangenen Phase sahen die Statistiken ganz anders aus. Im März 2020 wurden bis zu 70 von 100 positiv getesteten Patienten ins Krankenhaus eingeliefert. Jetzt liegt der Prozentsatz der Hospitalisierung bei 10 Prozent.
Wie erklären Sie sich das?
Adriano Peris: Weil wir die territoriale Versorgung aktiviert und verbessert haben. Asymptomatische Patienten und solche mit falschen Symptomen wie Durchfall etc. bleiben jetzt zu Hause. Im Allgemeinen kommen sie in den Genuss einer besseren medizinischen Versorgung. Patienten mit leichten Symptomen werden jetzt sorgfältig überwacht; sobald sich die Symptome verschlimmern, werden sie ins Krankenhaus gebracht. In der Toskana liegt die Rate der Krankenhauseinweisungen bei 59 Patienten pro 100.000 Einwohner.
Die verbesserte territoriale Gesundheitsversorgung ist ein sehr wichtiger Aspekt. Am Anfang der Pandemie war der positiv getestete Patient ein unbekannter Patient, und das System war deutlich konservativer. Er wurde im Krankenhaus eingewiesen, weil "man an Corona sterben kann". Es gab noch keine epidemiologische Stratifizierung des Territoriums.
Eines der Probleme in der Lombardei war das Fehlen einer territorialen medizinischen Versorgung. Wir in der Toskana haben sie. Mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten existiert dieses Netzwerk schon länger, es ermöglicht uns, die Patienten vor Ort zu versorgen.
Wurde die Vorgehensweise damals nicht von den zentral verabschiedeten Protokollen vorgegeben? Also direkt von Rom aus?
Adriano Peris: Wir erhalten unsere Anweisungen von der CROSS (Einsatzzentrale Medizinische Rettungseinsätze).

"Mit einer Grippe hat das Coronavirus gar nichts zu tun"

Hat die territoriale medizinische Versorgung zeitnah auf die Covid-Situation reagiert?
Adriano Peris: Wir waren am Anfang etwas langsam, weil es sich um eine hochexplosive Krankheit handelt. Unser anfängliches Referenzmodell war das H1N1, also die Schweineinfluenza. Aber mit einer Grippe hat das Coronavirus gar nichts zu tun. Es ist eben kein Grippevirus. Es handelt sich um ein sehr aggressives zytolytisches Virus, das alle Organe befällt.
Die Aggressivität des Virus ist im Hinblick auf die Sterblichkeit in zweierlei Hinsicht zu interpretieren. Zum einen mit Blick auf die italienweite Letalitätsrate, die bei 216 pro 100.000 Einwohnern liegt, und dann mit Blick auf die Letalitätsrate, die sich auf alle positiven Fälle bezieht - diese liegt bei 2,7 Prozent. In Florenz liegt sie bei etwa drei Prozent.
Lassen Sie uns über die Varianten sprechen…
Adriano Peris: Die Varianten haben einen großen medialen Einfluss, doch in Wirklichkeit sind sie sehr einfach. Wir Krankenhausärzte erhalten unsere Informationen von den Labors. In den letzten zwei Monaten waren 70 Prozent der entnommenen Abstriche die Delta-Variante. Die Alpha-Variante hingegen liegt bei etwa 15 Prozent - 18 Prozent. Allerdings untersuchen wir die Varianten nicht an allen entnommenen Proben. Ich wünschte, wir würden es machen!
Wir untersuchen die Varianten an den Proben, die wir untersuchen wollen, d. h. in Italien untersuchen wir die Varianten bei sieben Prozenten der positiven Abstriche. Das sind Proxy-Daten. Das ist sehr wichtig, da es einen großen Beurteilungsspielraum gibt. Wann sind diese Daten wichtig? Eine Methode zur Untersuchung der Varianten ist gerade in deren Entstehungsphase wichtig, wenn sie noch unbekannt sind, weil wir so kontrollieren können, ob die Impfstoffe funktionieren.
Wenn das so wichtig ist, warum ist das nicht bekannt? Warum werden die Varianten nicht untersucht, wenn sie entstehen?
Adriano Peris: Ich denke, dass die regionalen Behörden die Hinweise zur Untersuchung der Varianten mehr befolgen sollten.

Die Impfkampagne

Könnte das die Impfkampagne beeinflussen?
Adriano Peris: Die Impfkampagne verläuft nach anderen Regeln und anderen Zeiten; ihr Ablauf ist langsamer und wird von so vielen Variablen beeinflusst. Eins ist sicher: Wenn man die Varianten sofort erkennt und sie unverzüglich untersucht, weiß man, ob der Impfstoff die Variante irgendwie abdecken kann.
Sind die derzeitigen Impfstoffe gegen die Varianten wirksam?
Adriano Peris: Ich bin kein Biologe oder Virologe, ich bin Intensivmediziner; allerdings kann ich sagen, dass uns Anzeichen ihrer Wirksamkeit vorliegen. Wir wissen noch nicht viel über die Lambda-Variante, über deren Fähigkeit zur Neutralisierung der impfstoffinduzierten Antikörper am meisten diskutiert wird. Sie wird gerade untersucht und wir wissen noch sehr wenig.
Wie viele Ihrer Krankenhauspatienten sind geimpft?
Adriano Peris: Ich kann mit Sicherheit sagen, dass in den letzten Tagen alle Personen, die wir auf der Intensivstation von Careggi aufgenommen haben, ungeimpft waren. Hierzu liegen uns allerdings noch keine aggregierten und allgemeinen Daten vor. Wir hatten zwei schwere Fälle auf unserer Intensivstation - beide wurden nach der ersten Impfung eingeliefert.
Bei einem traten die Symptome drei Tage nach der ersten Impfung auf (die Anamnese zeigte dann aber, dass er schon 4 Tage vor der Impfung symptomatisch war), während es sich beim anderen Patienten um einen echten Fall handelte, der 10 Tage nach der Impfung symptomatisch wurde und sich die Krankheit zugezogen hat. Im Übrigen kann ich sagen, dass alle schweren Fälle, die wir haben, nicht geimpft sind.
Wer ist heute der typische Covid-Patient, der ins Krankenhaus Careggi kommt?
Adriano Peris: Das ist ungeimpfter 60-Jähriger mit schweren Atemwegsbeschwerden.
Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Adriano Peris: Ja, den gibt es. Bei Männern über 75 Jahren liegt die Sterblichkeitsrate bei 21 Prozent, während sie bei Frauen in derselben Altersgruppe 15 Prozent beträgt. Dies ist ein signifikanter Unterschied, der darauf hindeutet, dass Männer schwächer sind.

Die Behandlung von Covid-Patienten

Wie werden Covid-Patienten derzeit behandelt?
Adriano Peris: Wenn wir von Behandlung sprechen, meinen wir damit eine ätiologische Therapie, also eine Ursachenbehandlung. Wenn ich eine Streptokokken-Infektion habe, verabreiche ich Penicillin oder ein Derivat davon und das Bakterium stirbt. Für das Corona-Virus gibt es keine ätiologische Therapie. Anfangs haben wir antivirale Medikamente verwendet - Medikamente, die wir von anderen Infektionen übernommen hatten.
Dann haben wir alle entzündungshemmenden Medikamente eingesetzt, wie z. B. Chlorochin-Derivate, die jedoch sehr starke Nebenwirkungen haben; außerdem verabreichen wir auch monoklonale Antikörper, die besonders in der Anfangsphase ihre Berechtigung haben.
Die Behandlung zu Hause wird vermehrt mit monoklonalen Antikörpern begonnen. Es wird gerade eine Behandlungsmethode mit mesenchymalen Stammzellen erforscht, die zur Erneuerung von Geweben beitragen. Die Studie befindet sich jedoch noch im Anfangsstadium und muss noch wissenschaftlich untermauert und von Ethikkommissionen genehmigt werden - wir dürfen keine falschen Erwartungen wecken.
In den frühen Stadien der Krankheit scheint sie jedoch vielversprechend. In der Regel besteht die Behandlung jetzt noch aus Kortison, Entzündungshemmer und Heparin. Das sind neben der Sauerstofftherapie die wichtigsten Medikamente der Covid-Behandlung.
Gab es Fälle von Einweisungen aufgrund von unerwünschten Reaktionen auf den Impfstoff?
Adriano Peris: Wir haben einige Fälle mit unerwünschten Reaktionen wie Fieber, Muskelschmerzen, Schüttelfrost, allgemeines Unwohlsein, Kopfschmerzen etc... behandelt. Ich habe jedoch noch nie jemanden behandelt, der wegen einer Impfreaktion, welcher Art auch immer, ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Wurden und werden Autopsien durchgeführt?
Adriano Peris: Ja, vor allem in der zweiten Phase der Pandemie wurden sie häufiger durchgeführt. Das Prozedere in der Pathologie und der Gerichtsmedizin wurde dementsprechend angepasst. Mittlerweile kennen wir die Todesursache und die diagnostischen Analysen dienen vor allem dazu, das spezifische Risiko eines Organs zu stratifizieren.
Anfangs dachten wir, dass es beim Covid eine wichtige kardiologische Komponente gibt, einen Herztropismus - doch das hat sich nicht bewahrheitet. Viele Nebenwirkungen, die das Herz betrafen, waren in Wahrheit auf das Hydroxychloroquin zurückzuführen. Aber ja, Autopsien sind durchaus Teil unserer Analytik.

Die Nachversorgung und Prävention

Was wird unter Anbetracht der EU-zugelassenen Behandlungsmethoden die Zukunft bringen?
Adriano Peris: Das HIV-Virus schien unzerstörbar. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis HIV-Patienten effektiv behandelt werden konnten. Wir dürfen die Suche nach dem antiviralen Wirkstoff nicht aufgeben. Das können wir uns nicht erlauben.
Natürlich spreche ich als Krankenhausarzt und beziehe mich hier nicht auf Prävention. Eine ätiologische Therapie ist unabdingbar. Ich vertraue den unterstützenden Therapien, wie zum Beispiel dem Einsatz von Heparin und Entzündungshemmern, sprich dem Kortison. Auch die Frühanwendung der Zellerneuerung ist vielversprechend.
Allerdings gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die Mesenchymzellen, über die wir vorhin gesprochen haben, gegen das Virus resistent sind und dass das Virus die Zellen nicht angreift. Ein weiterer Aspekt, an dem wir arbeiten müssen, ist die Nachversorgung Zehntausender gebrechlicher Menschen, die das Krankenhaus nach der Covid-Erkrankung verlassen und in den nächsten zwei Jahren von uns betreut werden müssen.
Covid ist eine sehr ernste, sehr langwierige Krankheit, die auch die Mobilität stark beeinträchtigt. Wir müssen diese Patienten kontinuierlich nachversorgen. Die Gesundheitssysteme müssen sich in den kommenden Jahren um diese Menschen kümmern.
Dieses Jahr werden es sehr viele sein, nächstes Jahr viel weniger. Sie müssen rehabilitiert und wieder in das Berufsleben integriert werden. Wir hatten auch drei ECMO-Schwangerschaften in Careggi - das nur zur Verdeutlichung, dass diese Krankheit auch sehr junge und sogar schwangere Frauen betreffen kann. Sie haben alle überlebt und alle haben im Krankenhaus ein wunderschönes Baby zur Welt gebracht.
Stehen ätiologische Therapie und Impfung im Widerspruch? In welche Methode sollte Ihrer Meinung nach mehr investiert werden?
Adriano Peris: Die Impfung ist eine Ergänzung. Die beiden Ansätze stehen nicht im Widerspruch. Wenn ich 100 Ressourcen hätte, würde ich 60 für die Prävention verwenden, 30 für die Suche des Antivirus und 10 für den Rest. Wir müssen immer daran denken, wie wichtig der Kampf außerhalb des Krankenhauses ist. Denn dort findet der eigentliche Kampf statt.
Wenn Covid-Patienten im Krankenhaus ankommen, haben wir bereits etwas verloren. Es ist wichtig, das Krankenhaus bis zuletzt zu vermeiden. Das ist keine reine Plattitüde, sondern ein großes Anliegen.
Wenn die Prävention versagt, kommen die Patienten mit strukturellen Schäden ins Krankenhaus, denn das Virus ist keine Grippe, die die Zellen der Atemwege abschuppt. Das Virus dringt in den Blutkreislauf, in die Kapillaren ein und kann großen Schaden anrichten. Nur wenige Patienten sollen ins Krankenhaus kommen, damit wir diesen wenigen die größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen lassen zu können.