Corona und die Lehren: Wer wird gerettet, wenn die nächste Pandemie kommt?
14 Ärztinnen und Ärzte klagen gegen Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz. Die Kriterien seien widersprüchlich. Wie groß ist das Strafbarkeitsrisiko?
Wer wird gerettet, wenn in einer Notlage mehr Patienten um ihr Leben kämpfen, als es Behandlungsmöglichkeiten gibt? - Vor Beginn der Corona-Infektionswellen stellte sich diese Frage für Rettungskräfte und Mediziner vor allem in Kriegsgebieten und nach größeren Terroranschlägen.
Aktuell ist auch das Virus keine große Herausforderung mehr. Für zukünftige Notlagen wurden aber umstrittene Regelungen getroffen. Verstößt die vor einem Jahr im Bundestag beschlossene "Triage-Regelung" zum Umgang mit begrenzten intensivmedizinischen Kapazitäten bei übertragbaren Krankheiten gegen Grundrechte von medizinischem Personal?
Davon sind 14 Fachärztinnen und Fachärzte aus den Bereichen Notfall- und Intensivmedizin überzeugt, die mit Unterstützung des Berufsverbandes Marburger Bund eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht haben.
Rechtsunsicherheit in Grenzfällen
Die Beschwerde richtet sich vor allem gegen den Positiv-Negativ-Kriterienkatalog für eine Zuteilungsentscheidung Paragraf 5c des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und das grundsätzliche Verbot der "Ex-post-Triage" – also der Entscheidung, eine bei Patient A begonnene medizinische Versorgung zugunsten eines neu eintreffenden Patienten B mit besseren kurzfristigen Überlebenschancen abzubrechen.
Beide Regelungen machen aus ihrer Sicht ethisch wie medizinisch ein mit ärztlichen Grundsätzen vereinbares Handeln in Dilemma-Situationen unmöglich, verursachen Rechtsunsicherheit und setzen das ärztliche Personal einem Strafbarkeitsrisiko aus.
Die neu in das Infektionsschutzgesetz eingefügte Triage-Norm enthält Kriterien für die Zuteilungsentscheidung, aber auch Dokumentations- und Verwaltungsvorgaben, die von den behandelnden Ärzten zu beachten sind.
Berufs- und Gewissensfreiheit verletzt?
Aus der Sicht der Beschwerdeführer verletzt das Gesetz sie in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit in Artikel 12 des Grundgesetzes, das durch die Gewissensfreiheit in diesem Fall entscheidend verstärkt werde.
Durch die Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz würden ihnen Grenzentscheidungen aufgezwungen, die ihrem beruflichen Selbstverständnis an sich widersprächen und sie in Gewissensnöte brächten. Als widersprüchlich bewerten sie das Diskriminierungsverbot in der Triage-Regelung und die daraus folgenden Zuteilungsentscheidungen.
Die "Negativliste" sei unklar – und das klare Verbot der "Ex-post-Triage" könne auch bedeuten, dass Patienten mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit keine Behandlungskapazitäten mehr zugeteilt werden. Dieses Verbot findet sich im Schlusssatz von Absatz 2 des Paragrafen 5c.
Kritische Passage im Infektionsschutzgesetz
Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden.
Komorbiditäten dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern.
Kriterien, die sich auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nicht auswirken, wie insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität, dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt werden.
Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen.
Aus Paragraf 5c des Infektionsschutzgesetzes, Absatz 2
Kurzfristige Überlebenschance entscheidend
In einer Mangelsituation aufgrund übertragbarer Krankheiten sei aber die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit das entscheidende Kriterium für die Zuteilung medizinischer Ressourcen. Das habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 klargestellt (1 BvR 1541/20), betonen die Klägerinnen und Kläger.
Durch die Triage-Regelung werde den Ärzten aber zugemutet, eine Zuteilungsentscheidung in dem Wissen zu treffen, dass sie später eintreffende Patienten mit deutlich besseren Überlebenschancen nicht intensivmedizinisch behandeln können.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2021 aufgrund einer Beschwerde von Menschen mit Behinderung festgestellt, dass die Gesetzgebung Vorkehrungen treffen müsse, um sie im Ernstfall vor Benachteiligung in Triage-Situationen zu schützen.