Coronakrise: Abkehr vom "deutschen Sonderweg"
Mediziner lehnen die Strategie der Herdenimmunität ab. Das Robert-Koch-Institut vollzieht eine Kehrtwende
Mit aller Klarheit haben sich Mediziner am vergangenen Donnerstag bei Maybrit Illner gegen die Strategie der Herdenimmunität ausgesprochen. Eine Infizierung von 60-70 Prozent der Bevölkerung sei - auch in langsamer Geschwindigkeit und unter Schutz des vulnerablen Teils der Bevölkerung (alte und vorerkrankte Menschen) - medizinisch nicht verantwortbar. Der Grund: Auch junge Menschen ohne Vorerkrankungen können sehr schwer erkranken, und selbst bei überstandener Krankheit seien die gesundheitlichen Langzeitfolgen von Covid-19 zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar.
"Unethisch", so das klare Urteil von Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Die übrigen Gäste, darunter der Epidemiologe und SPD-Politiker Karl Lauterbach, schlossen sich ihrem Urteil an.
Die Moderatorin verzichtete an dieser Stelle auf eine Einordnung, obwohl es sich inhaltlich angeboten hätte, den Bezug herzustellen zur bisherigen Strategie der Bundesregierung. Denn diese wurde bisher ja so vermittelt:
Das Virus sei nun da. Ein pandemisches Geschehen lasse sich nicht aufhalten. In Ermangelung eines Impfstoffes würden sich zwangsläufig 60-70 Prozent der Bevölkerung infizieren, bis sich eine Immunität innerhalb der Bevölkerung entwickelt haben werde. Diesen Prozess müsse man durch gewisse Maßnahmen und unter Schutz der vulnerablen Bevölkerung verlangsamen, damit das Gesundheitssystem nicht unter der Last der erwartbaren Vielzahl von schwer Erkrankten zusammenbreche (flatten the curve).
So hatte in der Bundespressekonferenz vom 11. März 2020 Bundeskanzlerin Merkel unter Berufung auf den Leiter des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler von einer Infizierung von 60-70 Prozent der Bevölkerung gesprochen.
Zwei Tage zuvor hatte Wieler selbst in einer Pressekonferenz am 9. März auf die Frage nach dem Szenario für das Abklingen der Infektionswelle geantwortet:
Zu der [...] Frage hat gerade letzte Woche an derselben Stelle Christian Drosten sehr sehr klare Worte gefunden. Also das ist ein pandemisches Virus. Dieses Virus kann sich deshalb nur verbreiten, weil es ein neuartiges Virus ist, es keine Immunität in der Bevölkerung gibt. Und so ein Virus wird eben auf Dauer 60-70 Prozent der Menschen infizieren. Und dann irgendwann kommt es zu einer Art Gleichstand und dann wird es nicht mehr dazu kommen, dass sehr viele Menschen infiziert werden. Und die Frage ist einfach nur, wie lange es dauert. Und darum ist unser Ziel, die Verbreitung dieses Virus zu verlangsamen, damit wir Patienten, die teilweise sehr schwer erkranken werden, behandeln können.
Lothar Wieler
Dass es offenbar um eine verlangsamte Durchseuchung der Bevölkerung ging, zeigen auch Aussagen von Peter Tschentscher, dem Ersten Bürgermeister Hamburgs, in einer Pressekonferenz vom 17. März:
Wir werden aber auch viele Erkrankungsfälle haben. Das ist auch was, was jetzt notwendig ist, wenn man es mal so sagen darf. Das wirksamste Mittel gegen das Virus ist unser Immunsystem selbst. […] Und deswegen ist eigentlich die wichtigste Maßnahme jetzt, dass wir unseren Immunsystemen der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg die Gelegenheit geben, sich sozusagen aufzustellen gegen das Virus [...] über einen gestreckten Zeitraum. Dadurch kommen wir dann in die Lage, dass wir weitergehende Maßnahmen möglicherweise nicht benötigen. Aber ich sage noch einmal [...]: Für heute ist das etwas, was uns die Gesundheitsexperten und das Robert Koch-Institut empfiehlt (sic). Das ist das, was wir für Deutschland in dieser Situation für die richtige und auch von der Wirkung her sinnvollste Maßnahme einstufen.
Peter Tschentscher
Eine solche Strategie der Herdenimmunität lehnt die WHO ab, da das Virus dafür zu unbekannt sei, und forderte deshalb dazu auf, nach dem Vorbild asiatischer Staaten alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, die Ausbreitung der Infektion schnell und kraftvoll zu unterdrücken, und zwar mit Maßnahmen der räumlichen Distanzierung, gekoppelt mit rigorosem Testen, der konsequenten Rückverfolgung von Kontaktpersonen (contact tracing) sowie dem Behandeln und Isolieren von Erkrankten.
Diese Eindämmungsstrategie (containment) scheint man in Deutschland dagegen schnell umgedeutet zu haben als Strategie, die auf bloße Verlangsamung einer ohnehin - so wurde gesagt - nicht mehr aufzuhaltenden Infektionsausbreitung zielte.
Warum man in Deutschland in diesem Punkt von den Empfehlungen der WHO abgewichen ist, ist nicht ganz klar. Tschentschers oben zitierte Aussagen weisen jedoch darauf hin, dass man hoffte, auf diese Weise radikalere Maßnahmen wie Ausgangssperren umgehen zu können. Denkbar ist auch, dass insbesondere durch den Karneval das Zurückverfolgen der Infektionsketten sehr erschwert worden war.
Am 20. März scheint dann eine Kehrtwende in der RKI-Strategie erfolgt zu sein. Modellberechnungen, zuerst vom Imperial College London, dann bezogen auf Deutschland von der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), waren zum Schluss gekommen, dass nur durch stärkere Unterdrückungsmaßnahmen der Infektionsausbreitung die Chance bestehe, die Überlastung des Gesundheitssystems noch zu verhindern.
"Aktuell liegt ein kurzes Zeitfenster vor, in dem die Entscheidung zwischen Eindämmung und Verlangsamung der Infektionsausbreitung noch ohne Überlastung des Gesundheitssystems erfolgen kann", hieß es in der Stellungnahme der DGEpi vom 18. März.
Am 20. März schließlich sprach ein sichtlich erschütterter Lothar Wieler in der RKI-Pressekonferenz von einer Krise, "die ein Ausmaß hat, das ich mir selber nie hätte vorstellen können". Dass er sich das Ausmaß nun doch vorstellen konnte, verdankte Wieler seinen Mitarbeitern. Die hatten ihm nämlich nun auch eine Modellierung vorgelegt, die das Ausmaß der Krise berechnete, sollten in den nächsten Wochen nicht "maximale Anstrengungen" unternommen werden.
Nachdem Wieler von einer Krise unvorstellbaren Ausmaßes gesprochen hatte, trat Bayerns Ministerpräsident noch am selben Tag vor die Kamera und verhängte für Bayern Ausgangsbeschränkungen:
Ich und wir können nicht verantworten zu warten. Wir dürfen nicht zögern. Jede Infektion, jeder Tote ist zuviel. […]. Ich glaube nicht, dass ein deutscher Sonderweg richtig ist. Ich glaube, wir sollten uns den Entwicklungen und Möglichkeiten, die andere bereits in der Erfahrung haben, nicht verschließen.
Markus Söder
Die anderen Bundesländer folgten zwei Tage später. Man darf annehmen, dass auch sie die oben genannten Modellberechnungen kannten.
Das Robert Koch-Institut schrieb umgehend Stellen zur Rückverfolgung von Kontakten aus (sog. Containment Scouts). Die Kriterien für das Durchführen von Tests wurden verändert, das Kriterium "Aufenthalt in einem Risikogebiet" fällt weg; sofern es die Testkapazitäten zulassen, gibt es nun mehr Möglichkeiten, sich testen zu lassen.
Die Süddeutsche berichtet nun von einem vertraulichen Strategiepapier aus dem Innenministerium, in dem die Erhöhung der Testkapazitäten nach dem Vorbild Südkoreas als "überfällig" bezeichnet wird.
Das Robert Koch-Institut hat inzwischen auch die Falldefinition geändert: Als bestätigte Covid-19 Fälle gelten nun unter Berücksichtigung einer Inkubationszeit von 14 Tagen auch nicht getestete Kontaktpersonen mit Symptomen. Laut RKI-Dashboard dagegen werden nur getestete Coronafälle veröffentlicht.
Im Unterschied zu den zuerst genannten Neuerungen ist auf den ersten Blick noch nicht ersichtlich, welchem Zweck die veränderte Falldefinition dienen soll.
Derweil bereitet Gesundheitsminister Spahn die Bevölkerung schon auf das vor, was noch kommen werde: Man befinde sich noch in der Ruhe vor dem Sturm.