Covid-19: Risikofaktoren weltweit, die bei einer Infektion einen schweren Verlauf verursachen könnten
Ergebnisse einer Modellierungsstudie mit Daten aus 188 Ländern
Gelegentlich sind Stimmen zu hören, dass es sich bei den Opfern der Coronavirus-Infektion um Personen handelt, die aufgrund von hohem Alter und zugleich bestehenden gesundheitlichen Risikofaktoren sowieso bald gestorben wären oder nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Mit derartigen Diskussionsbeiträgen habe ich mich am 7.5.2020 am Schluss meines in Telepolis veröffentlichten Artikels auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, dass es sich bei den "Alten", der wichtigsten Risikogruppe für Covid-19, in Deutschland um mindestens 15 bis 20 Millionen Menschen handelt, also um etwa einem Viertel unserer Bevölkerung.1 Für diese Altersgruppe gilt heute aus der Sicht eines Rehabilitationsmediziners, dass man auch mit zwei oder drei der diskutierten möglichen gesundheitlichen Risikofaktoren noch viele Jahre ein lebenswertes Leben führen kann.2
Am 15.6.2020 ist nun eine großangelegte Modellierungsstudie mit Daten aus 188 Ländern im Wissenschaftsmagazin The Lancet Global Health erschienen, in der die Frage untersucht wird, wie viele Menschen weltweit aufgrund der bei ihnen bestehenden alters- und gesundheitsbedingten Risikofaktoren bei einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus einen schweren Verlauf von COVID-19 erleiden könnten und wie dieses Risiko zwischen den Ländern variiert.
Das Resultat dieser bemerkenswerten wissenschaftlichen Arbeit sei meinen weiteren Ausführungen vorangestellt: Bei schätzungsweise 1,7 Milliarden Menschen, das heißt bei etwa 22 % der Weltbevölkerung, besteht mindestens ein alters- und/oder gesundheitsbedingter Risikofaktor, der im Falle einer Infektion mit SARS-CoV-2 einen schweren Verlauf von COVID-19 möglich macht. Bei der folgenden Darstellung dieser Studie stütze ich mich auch auf die ebenfalls vom Lancet veröffentlichte Kurzfassung dieser umfangreichen Arbeit.
Die Ziele der Studie
Der Erstautor der Studie, Andrew Clark, von der London School of Hygiene & Tropical Medicine sagt zu den Zielen der Studie:
Wir hoffen, dass unsere Einschätzungen nützliche Anhaltspunkte für die Gestaltung von Maßnahmen zum Schutz von Menschen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf liefern. Dies könnte bedeuten, dass Menschen mit einem bestehenden hohen Risiko soziale Distanzierungsmaßnahmen durchführen, die abhängig sind von dem Grad ihres Risikos, oder dass diese Risikoträger bei einer eventuell zur Verfügung stehenden zukünftigen Impfung priorisiert werden.
Andrew Clark
Obwohl die erfolgten Abschätzungen eine Vorstellung davon liefern, bei wie vielen Menschen eventuelle Schutzmaßnahmen erforderlich sind, schätzen die Forscher aber nicht ein, dass alle Personen mit erhöhtem Risiko schwere Krankheitssymptome bei einer Infektion entwickeln werden. Die Autoren nehmen an, dass nicht die oben genannten 22 %, sondern nur etwa 4 % der Weltbevölkerung (349 Millionen von 7,8 Milliarden Menschen) im Falle einer Infektion so schwer erkranken, dass sie in einem Krankenhaus behandelt werden müssten (Abb. 1).
Gesundheitliche Risikofaktoren
Die von der WHO und den Gesundheitsbehörden in Großbritannien und den USA veröffentlichten Leitlinien nennen als Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von Covid-19: chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie z. B. eine koronare Herzkrankheit, chronische Nierenerkrankungen, die mit einer Niereninsuffizienz (Nierenschwäche) einhergehen, Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 und chronische Atemwegserkrankungen wie z. B. eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Die neue Studie liefert globale, regionale und nationale Einschätzungen für die Anzahl der Menschen, bei denen diese chronischen Krankheiten vorliegen dürften.
Die Autoren weisen darauf hin, dass sie die genannten chronischen Erkrankungen in den Blick genommen haben und andere mögliche Risikofaktoren für Covid-19, die aber noch nicht in allen Richtlinien enthalten sind, wie z. B. ethnische Zugehörigkeit und sozioökonomische Benachteiligungen, nicht berücksichtigt haben. Sie gehen deshalb davon aus, dass ihre Einschätzungen das Problem nicht erschöpfend und vollständig behandeln, sondern dass diese nur als ein Ausgangspunkt für politische Entscheidungsträger sein können.
Ihre Schätzungen stützten die Autoren auf Daten zur Krankheitsprävalenz aus der Global Burden of Diseases, Injuries and Risk Factors Study (GBD) 2017, den Bevölkerungsschätzungen der UNO für 2020 und den Listen der Risikofaktoren, die für Covid-19 relevant sind, wie sie in den oben erwähnten aktuellen Leitlinien definiert sind. Sie weisen darauf hin, dass die Schätzungen der GBD-Prävalenz wahrscheinlich höher ausfallen als die Schätzungen der Krankheitsprävalenz aus nationalen Datenbanken, da diese so konzipiert sind, dass sie Fälle erfassen, die möglicherweise noch nicht diagnostiziert oder nicht schwerwiegend genug sind, um in elektronischen Gesundheitsakten aufgenommen zu werden. In der Studie ist die Anzahl der Personen mit einem bestehenden Risikofaktor nach Altersgruppen, Geschlecht und Land für 188 Länder dargestellt.
Um das Ausmaß des erhöhten Risikos zu bestimmen, führten die Forscher auch gesonderte Einschätzungen des Anteils aller Personen (mit oder ohne zugrunde liegendem Risikofaktor) durch, die im Falle einer Infektion eine Krankenhauseinweisung benötigen würden. Die Autoren berechneten daraus die Anzahl derjenigen mit hohem Risiko, indem sie das Verhältnis der Zahl der Infektionen zu der Zahl der Hospitalisierungen berücksichtigten und auf dieser Basis Anpassungen für die festgestellten Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern vornahmen.
In Ländern und Regionen mit einer überwiegend jüngeren Bevölkerung gibt es weniger Menschen mit mindestens einem zugrunde liegenden Risikofaktor, während in Ländern mit einer älteren Bevölkerung mehr Menschen mit mindestens einem derartigen Faktor leben. So reicht der Anteil der Bevölkerung mit einem oder mehreren Risikofaktoren von 16 % in Afrika (283 Millionen von 1,3 Milliarden Menschen) bis zu 31 % in Europa (231 Millionen von 747 Millionen) (Abb. 1).
Andrew Clark stellte jedoch warnend fest, dass diese Fakten sorgfältig kommuniziert werden müssten, damit kein falscher Eindruck über Risiken in Afrika entsteht:
Der Anteil der Bevölkerung mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 ist in Afrika aufgrund des viel geringeren Durchschnittalters der Bevölkerungen im Allgemeinen niedriger als anderswo, aber ein viel höherer Anteil schwerer Fälle könnte in Afrika trotzdem auftreten als in anderen Weltregionen.
Andrew Clark
So befinden sich kleine Inselstaaten mit hoher Diabetesprävalenz, wie Fidschi und Mauritius, unter denjenigen Regionen mit dem höchsten Anteil von Menschen mit einem wichtigen gesundheitsbedingten Risikofaktor für einen schweren Verlauf von Covid-19. Und in Afrika haben Länder mit der höchsten HIV/AIDS-Prävalenz, wie Swasiland und Lesotho, einen höheren Anteil an Menschen mit einem bedeutsamen gesundheitsbedingten Risikofaktor als Länder mit geringerer Prävalenz der HIV-Erkrankung wie Niger.
Alters- und geschlechtsbedingte Risikofaktoren
Weltweit haben weniger als 5 % der unter 20-Jährigen, aber mehr als 66 % der über 70-Jährigen mindestens einen Risikofaktor, der ihr Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19 erhöhen könnte. Von der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) haben schätzungsweise 23 % mindestens einen derartigen Risikofaktor.
Die Prävalenz von einem oder mehreren Risikofaktoren, die in den aktuellen Richtlinien aufgeführt sind, ist zwischen den Geschlechtern ähnlich, aber die Autoren gehen davon aus, dass Männer trotzdem doppelt so häufig wie Frauen so schwer erkranken, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssten, wenn sie sich infiziert haben.
Insgesamt schätzen die Autoren ein, dass weltweit ca. 349 Millionen Menschen, das entspricht etwa 4% der Weltbevölkerung, einem hohen Risiko für einen schweren von COVID-19 ausgesetzt sind (Abb. 1). Das bedeutet, dass sie im Falle einer Infektion eine Krankenhausbehandlung benötigen. Dieses Risiko schwankt altersabhängig zwischen weniger als 1 % bei den unter 20-Jährigen und fast 20 % bei den über 70-Jährigen, wobei es bei Männern über 70 Jahren auf mehr als 25 % ansteigt. In allen Altersgruppen unter 65 Jahren würden etwa doppelt so viele Männer wie Frauen stationär behandelt werden müssen. Im Alter von über 65 Jahren wird dieser größere Anteil der Männer jedoch wieder abnehmen, weil Frauen in höheren Altersgruppen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung überrepräsentiert sind.
"Unsere Einschätzungen deuten darauf hin, dass altersabhängige Schwellenwerte für Schutzmaßnahmen in Form sozialer Distanzierungen eine Rolle bei der Verminderung der Todesfälle und der Verringerung der Zahl der Menschen spielen könnten, die eine Krankenhausbehandlung benötigen. Aber die Wahl dieses Schwellwertes muss gut überlegt werden und den Anteil der eventuell betroffenen Menschen im erwerbsfähigen Alter berücksichtigen sowie die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, die mit langen Isolationsphasen verbunden sein können", sagt Rosalind Eggo, eine andere Autorin der Studie.
Einige Schlussfolgerungen
- Ein besseres Verständnis der Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von Covid-19 im Falle einer Ansteckung könnte dabei helfen, das weit verbreitete Missverständnis zu zerstreuen, dass jeder Mensch ein gleiches Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf hat, und bietet zugleich die Möglichkeit, gezielter Maßnahmen gegen das Auftreten einer schweren Covid-19, wie z. B. Schutzmaßnahmen und/oder Impfungen, sobald ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht, effektiver zu planen und durchzuführen.
- Die Autoren der vorliegenden Studie stellen fest, dass es an der Zeit ist, bei der Prävention eines schweren Verlaufs von Covid-19 von einer einheitlichen Herangehensweise an dieses Problem Abstand zu nehmen und stattdessen zu einem differenzierteren Ansatz zu kommen, der sich auf die am stärksten gefährdeten Personengruppen konzentriert. Dies müsse sowohl auf individueller als auch auf kommunaler Ebene geschehen.
- Angesichts der Relevanz sozialer Determinanten, die in der Studie allerdings nur hinsichtlich der Auswirkungen von Alter und Geschlecht untersucht worden sind, erfordert ein solcher Ansatz dringend eine Verbesserung der Kommunikation über Covid-19 und des Zugangs aller Infizierten zu den Gesundheitsdiensten, einschließlich der Palliativmedizin, und gegebenenfalls eine wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere für diejenigen, die bereits sozial benachteiligt sind.
- Als langjährig tätiger Rehabilitationsmediziner habe ich die Erfahrung gemacht, dass die oben aufgeführten chronischen Krankheiten nicht nur wichtige gesundheitlichen Risikofaktoren sind, die verantwortlich sind für einen schweren Verlauf von Covid-19, sondern dass es sich dabei ebenfalls um zentrale Risikofaktoren handelt, die die Lebenserwartung vieler Menschen unabhängig von Covid-19 deutlich einschränken. Das gilt insbesondere für Menschen aus den unteren Einkommensgruppen.3
- Das Auftreten dieser chronischen Krankheiten wird neben genetischen Faktoren vor allem durch Lebensstilfaktoren wie Rauchen, körperliche Inaktivität, eine ungesunde und zu kalorienreiche Ernährung und chronische Stressbelastungen gefördert.
- Deshalb ist zu vermuten, dass die Ausschaltung dieser fördernden Faktoren auch den Verlauf von Covid-19 günstig beeinflussen könnte.
- Da chronische Lungenerkrankungen wie die COPD, die ein wichtiger gesundheitlicher Risikofaktor für Covid-19 sind, vor allem durch das Rauchen verursacht werden und damit gerechnet werden muss, dass die Corona-Pandemie unser Gesundheitssystem noch längere Zeit beschäftigen wird, haben wir vorgeschlagen, dass die Krankenkassen in Corona-Zeiten endlich beginnen sollten, die Rauchentwöhnung finanziell zu unterstützen.4
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie-, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin-, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de