Covid: Schwere Vorwürfe wegen massenhafter künstlicher Beatmung

Seite 2: Mehr Probleme geschaffen als gelöst?

In einem Artikel des Vereins "Sokrates - kritische Rationalisten" formulieren Thomas Voshaar, Matthias Schrappe, Gerd Antes und weitere Autoren ihre Kritik deutlich. Im Beitrag "Warum hat in der Pandemie die Intensivmedizin häufig mehr Probleme geschaffen als gelöst? Oder: Die Laborwertemedizin und ihre Folgen" schreiben sie am 25. April 2023.

Mehr als 20 Jahre werden Patienten allein aufgrund eines isolierten Sauerstoffmangels im Blut (Hypoxämie) intubiert und beatmet, oft gesteuert durch die einfache Messung der Sauerstoffsättigung (sO2) im Blut. Dieses Vorgehen ist als schwerer Behandlungsfehler zu werten, entbehrt dieses Vorgehen doch jeder wissenschaftlichen bzw. pathophysiologischen Grundlage. [...]

Seit deutlich mehr als 20 Jahren gibt es in der physiologischen und klinischen Forschung zahlreiche Belege, dass die invasive Beatmung, dort wo nicht indiziert, mehr schadet als nutzt. Selten steht eine etablierte klinische Praxis auf so schwachem Fundament. In der Pandemie ist das besonders deutlich geworden: Kliniken, die diesen Fehler nicht begangen haben, hatten eine etwa sechsfach geringere Todesrate bei der schweren Verlaufsform der Lungenentzündung (Covid-19).

Während der Corona-Pandemie wurde sehr früh deutlich, dass unter einer Strategie der frühen Intubation bei auch nur leichter Hypoxämie ca. 60 – 90 Prozent der Patienten unter diesem Vorgehen bereits nach wenigen Tagen, ein kleiner Teil sogar nach wenigen Stunden, starben.

Daher gab es schon im April 2020 aus vielen Ländern kritische Fragen zu einem solchen Vorgehen und eine zunehmende Nutzung nicht-invasiver Verfahren. In Deutschland wurde allerdings besonders lange an der primären invasiven Beatmung über einen Tubus festgehalten.

Thomas Voshaar et al.

Die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) beantworteten konkrete Fragen vom 9. Mai zu ihrer Einschätzung der Kritik an zu früher invasiver Beatmung nicht, sondern kündigten eine gemeinsame Stellungnahme an. Diese liegt noch nicht vor.

Allerdings sind offenbar doch zahlreiche Ärzte im Verlauf der Pandemie zurückhaltender geworden beim Einsatz von Intubations-Beatmung. Wolfram Windisch, seit April 2023 Präsident der DGP, schreibt in einer Literaturschau mit Stand März 2021 (Bedeutung nicht-invasiver Verfahren [NIV] in der Therapie des akuten hypoxämischen Versagens bei COVID-19):

So wurden während der ersten Welle noch 74 Prozent der Patienten ohne NIV-Versuch direkt intubiert, während es in der zweiten Welle nur noch 40 Prozent gewesen sind und entsprechend der Anteil mit NIV stark angestiegen ist.

Wolfram Windisch et al.

Ein Grund für das frühe und zum Teil auch besonders heikle Intubieren dürfte eine massive Angst des Personals vor einer eigenen Corona-Ansteckung gewesen sein. So heißt es in "Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit Covid-19" vom 12. März 2020, formuliert von Vertretern aus vier medizinischen Fachgesellschaften:

Prozeduren an den Atemwegen (Intubation, Bronchoskopie, offenes Absaugen, manuelle Beatmung, Tracheotomie) sollten aufgrund der Aerosolbildung nur bei absoluter Notwendigkeit mit entsprechenden Schutzmaßnahmen (inkl. FFP2/ FFP3-Maske und Schutzbrille) durchgeführt werden. [...] Wenn vertretbar sollte eine Rapid Sequence Induction (RSI) ohne Zwischenbeatmung durchgeführt werden, um die Aerosolbildung zu minimieren.

Stefan Kluge, Uwe Janssens, Tobias Welte et al.

Eine "Rapid Sequence Induction" ist ein Verfahren zur besonders schnellen Intubation. "Angewandt wird es hauptsächlich bei dringlicher Intubationsindikation eines nicht-nüchternen oder anderweitig aspirationsgefährdeten Patienten", heißt es dazu im Medizinlexikon von Amboss, wo das Verfahren auch dezidiert beschrieben ist, einschließlich der möglichen Komplikationen wie einer Intubationsverletzung.

Zum Eigenschutz heißt es in dem Fachartikel von Kluge, Janssens, Welte et al. mit den Empfehlungen weiter:

Der Gebrauch des Stethoskops zur Lagekontrolle des Tubus sollte zurückhaltend erfolgen. Bei einer notwendigen Reanimation ist besonders auf die entsprechenden Schutzmaßnahmen des Personals zu achten, die Atemwegsicherung sollte dabei schnell erfolgen und die betreuende Personalgruppe klein gehalten werden.

Kluge, Janssens, Welte et al.

Und schließlich besonders deutlich:

Insgesamt sollte daher die Indikation für HFNC/NIV [nicht-invasive Methoden] bei akuter hypoxämischer respiratorischer Insuffizienz im Rahmen von COVID-19 eher zurückhaltend gestellt werden. Bei Patienten mit einer schwereren Hypoxämie (PaO2/FIO2 ≤ 200mm Hg) ist vorzugsweise die Intubation und invasive Beatmung anzustreben.

In jedem Fall müssen ein kontinuierliches Monitoring und eine ständige Intubationsbereitschaft sichergestellt sein. Eine Verzögerung der Intubation bei Nichtansprechen einer NIV verschlechtert die Prognose, eine notfallmäßige Intubation sollte aufgrund des Übertragungsrisikos unbedingt vermieden werden.

Einen guten Monat nach diesen "Empfehlungen" publizierte die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) am 22. April 2020 ein "Positionspapier zur praktischen Umsetzung der apparativen Differenzialtherapie der akuten respiratorischen Insuffizienz bei COVID-19". Daran war neben Windisch und anderen auch Voshaar beteiligt. Darin heißt es:

Der Schutz des Personals durch persönliche Schutzausrüstung soll sehr hohe Priorität haben, weil die Angst vor Ansteckung kein primärer Intubationsgrund sein darf.

Positionspapier

Was man auch so lesen kann, dass eben sehr wohl aus Angst vor Ansteckung intubiert wurde. Ein eigener, umfangreicher Abschnitt befasst sich mit "Aerosol bei Therapieverfahren zur Atmungsunterstützung", u.a. mit Erfahrungen aus der H1N1-Epidemie (Schweinegrippe) und von Patienten mit Erkältungssymptomatik.

Und auch in diesem Positionspapier wird vor zu zögerlichem Intubieren gewarnt.#

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