Cyber-Friedhof

Über die Internet-Revolutionierung des Qingming-Fests

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Das China Internet Network Information Center (CNNIC) veröffentlicht jedes Jahr zwei Mal einen umfassenden Bericht über die aktuelle Entwicklung des Internet in China. Der letzte CNNIC-Bericht (1/2003) zeigt weiterhin eine unglaublich schnelle Zunahme der Internetnutzer: von 33,7 Millionen Internetnutzern Ende 2001 stieg deren Anzahl um 75% auf 59,1 Millionen Ende 2002. Dieses Tempo wird - wie man glaubt - noch einige Zeit anhalten. Die dahinter stehende Ambition drückt die Überschrift eines kürzlich erschienenen Online-Artikels treffend aus: "Das Internet-China aufbauen und Führer der neuen Zivilisation werden".

Man ist zuversichtlich, dass im Jahr 2005 (wenn die Statistik nicht täuscht oder enttäuscht) die Zahl der chinesischen Internetnutzer die 200 Millionen-Marke erreicht haben wird und damit China die größte 'Internet-Nation' der Welt sein würde. Chinesisch würde dann eine der meistgenutzten Internet-Sprachen sein. Einer These zufolge sieht man im Internet nicht nur eine medienspezifische Revolution, sondern viel mehr noch eine Revolution in den menschlichen Beziehungen. Mindestens sind die meisten Internetnutzer davon überzeugt, dass das Internet bereits in ihr Leben eingedrungen ist und es verändert." In wie weit diese Veränderung vor sich hin geht, zeigen verschiedene Aspekte des Lebens. Das folgende Beispiel ist nicht untypisch.

Das Fest des hellen Lichts

Das chinesische Frühlingsfest ist auch im Westen vielen bekannt. Es ist das Neujahrsfest nach dem Mondkalender und jahreszeitlich liegt es eigentlich noch im Winter. Dass es Frühlingsfest heißt, hat damit zu tun, dass man in der Kälte schon den Winter verabschieden will und den Frühling begrüßt. Weniger bekannt im Westen ist aber ein anderes Frühlingsfest der reinen Klarheit: Qingming oder das Fest des "hellen Lichts". Es ist ein uraltes Fest, das bis in die Zeit vor unserer Zeitrechnung zurückverfolgt werden kann. Es ist ursprünglich ein Vegetationsfest und findet wirklich im Frühling statt. So erklärt sich auch der Name: qing meint: der Himmel ist blau; ming: auf der Erde ist es hell. Schon im 7. Jahrhundert fingen die Chinesen an, zum Qingming-Fest Ausflüge zu machen und in der Natur die Frühlingslandschaft zu genießen. Die Gewohnheit, zu diesem Fest Ausflüge zu machen, ist bis heute erhalten geblieben.

Qingming ist ein großes Fest und spielt in China etwa die Rolle des Osterfestes, mit dem es auch zeitlich häufig ungefähr zusammenfällt. Es ist übrigens auch ein Totenfest - gefeiert am 4. oder 5. April. Aber zu feiern beginnt man bereits zehn Tage vor diesem Datum; danach wird noch ca. acht Tage gefeiert. Daher zählen ca. 20 Tage zum Qingming-Fest.

Am Festtag werden merkwürdigerweise auch wie im Westen bunte, gekochte Eier gegessen. Dieses Fest des wiederkehrenden Lebens ist zugleich dem Andenken an die Heimgegangenen geweiht; denn Auferstehung setzt ja immer den Tod voraus. So werden die Gräber der Verstorbenen von Unkraut gereinigt, die Hügel neue aufgefüllt und eine Erdscholle obendrauf gelegt. Wenn irgend möglich kehren die Familienmitglieder heim, um im Kreise der Großfamilie das Fest zu begehen. Diese Sitte ist besonders populär geworden schon seit dem 9. Jahrhundert.

Heutzutage sind in den 20 Tagen um den Festtag herum die Züge, Schiffe und andere Verkehrsmitteln voll von Menschen, die sich zum Saomu begeben, also am Grab der Verstorbenen dieser gedenken. In vielen Gegenden von China gab es eine so genannte Zeremonie der Tränen, wobei die Hinterbliebenen beim Qingming-Fest an den Gräbern der verstorbenen Verwandten jammern und weinen. Die Gedenkreden aus dem Stegreif sind meistens sehr melancholisch und rührend. Es gibt sogar einen bestimmten Rhythmus und eine ziemlich harmonische Melodie zu dieser Zeremonie. Das ist aber nur die alte Sitte. Heute sind solche Szenen kaum mehr zu sehen.

"Lasst uns das Aussehen und die Stimmen der Verstorbenen im digitalen Raum verewigen"

Vor allem der Internet-Boom fängt nun an, alles zu ändern. Selbst eine alte Sitte bleibt davon nicht unverschont. Im vorigen Jahr war um die Zeit des Qingming-Fests das "Saomu im Netz" ein aktuelles Thema in den chinesischen Medien. Es gab zahlreiche Diskussionen über das so genannte "Cyber-Gedenken" an die Verstorbenen. In den Tagen vor und nach dem Qingming-Fest konnte man auf Netor, der größten der so genannten "Gedenk-Plattformen" Chinas, auf den von den Internetnutzern selbst eingerichteten "Cyber-Friedhöfen" tausende Gedenkreden lesen, wie zum Beispiel: "Lassen wir alle Familienmitglieder in dieser imaginären geistigen Welt zusammenkommen." Oder: "Papa, nun kann ich jeden Tag bei Dir sein."

Auf der Eingangsseite von Yingte-Gongmu, angeblich dem ersten Cyber-Friedhof der Welt, sieht man prompt die Flash-Schriften: "Lasst uns das Aussehen und die Stimmen der Verstorbenen im digitalen Raum verewigen." Eine seltsame Zeremonie spielte sich im Januar 2000 auf einem Shanghaier Cyber-Friedhof ab: Zigtausende chinesische Internetnutzer aus aller Welt nahmen interaktiv an der Cyber-Trauerfeier des jungen Lu Youqing teil, der an Krebs gestorben war. Vor seinem Tod war sein Buch "Das Tagebuch eines Sterbenden" ein Bestseller. Kurz danach wurde sein Pixelgrab errichtet. Später wurden andauernd kurze E-Mail Grüße "in die Ewigkeit" geschickt.

Bei den chinesischen Internetnutzern ist ein Besuch auf dem Cyber-Friedhof anscheinend schon längst nichts Neues mehr. Statt traditionsgemäß am Familiengrab Papiergeld zu verbrennen, damit es den Toten im Jenseits an nichts fehle, schalten viele Internetnutzer in China jetzt den Computer an. Um die Qingming-Zeit ist die Besucherzahl bei www.netor.com jeden Tag über 1 Million.

Unter so vielen Millionen Menschen geht natürlich nicht jeder nach altem Brauch zu seinen verstorbenen Familienmitgliedern. Seit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 werden jedes Jahr am Qingming-Fest auch Gedenkfeiern für revolutionäre Helden veranstaltet, die für die Befreiung Chinas ihr Leben geopfert haben. Diese Feiern suchten das Fest in "revolutionäre" Veranstaltungen umzufunktionieren, es vom "Aberglauben" zu befreien und in den Dienst eines neuen "Patriotismus" zu stellen. Diese nach 1949 durchgesetzte Praxis scheint sich inzwischen ebenfalls den gewandelten, "modernen Zeiten" anzupassen und treibt seltsame Blüten. So haben im vorigen Jahr die Web-Portale Chinaspirit, das hauptsächlich den Patriotismus propagiert, sowie eines, welches sich auch ankündigt mit dem chinesischen Namen "Xue zhu zhonghua" (Vergossenes Blut Chinas), zusammen mit Xinhuanet und People.com sowie vielen anderen Websites eine Cyber-Gedenkfeier vom 3. bis 7. April veranstaltet - und zwar unter dem Motto: "An die Gefallenen denken, zusammen die chinesische Seele gestalten."

Seit der Nationalismus, oder auch der Patriotismus, in China neuerdings wieder ganz groß geschrieben wird, hat man zudem Jahr für Jahr zu dieser Zeit auch dem legendären Huangdi (also dem Gelben Kaiser) wieder "geopfert", dem vorgeblichen "Urahnen" der chinesischen Nation.

"Jahrtausende alte vulgäre Bräuche zerstören"

Das Gedenken gilt selbstverständlich auch den heutigen Helden. Das Pixelgrab des Piloten Wang Wei erhält die meisten Besuche. Dieser "Nationalheld" stürzte im Frühjahr 2001 nach dem Zusammenprall mit einem US-Aufklärungsflugzeug ab. 228.000 Trauernde haben bereits kondoliert. "Boykottiert amerikanische Waren", forderte ein wütender Surfer. Ein Schüler schrieb vor kurzem in seiner E-Mail: "Onkel Wang! Mit Deinem Leben hast Du mich gelehrt, wie man als ein richtiger Chinese sein Vaterland lieben soll. Ich schwöre, dass ich fleißig lerne, um später wie Du alles unserem Vaterland zu widmen." - Also ganz im Sinne der nach 1949 sich durchsetzenden dogmatischen Erziehung, welche die jungen Menschen auf eine gewisse, autoritäre Weise zu instrumentalisieren suchte. Auf einen andächtigen Mausklick ertönt aus dem Lautsprecher dann die bekannte Gu Zheng Musik "Hohe Berge, fließendes Wasser", - eine Melodie, die der verblichene "Nationalheld" angeblich zu Lebzeiten gerne hörte.

Im Jahr 2000 hat das chinesische Ministerium für Zivilverwaltung dazu aufgerufen, online der Verstorbenen zu gedenken. Sein Motto: "Jahrtausende alte vulgäre Bräuche zerstören, die zivilisierte Gedenkfeier des neuen Jahrhunderts veranstalten." Seit zwei Jahren haben mehr als 10 große Friedhöfe in Kooperation mit IT-Unternehmen ihren Internet-Gedenk-Service angeboten. Eine ganze Menge Cyber-Friedhöfe sind gerade im Aufbau. Ganz im Sinne der Regierung. Denn die Regierung denkt nicht nur ideologisch, sie handelt auch im praktischen Sinne: Chinas realen Friedhöfen mangelt es an Platz. "Bei Internet heißt die Zeit Ewigkeit", sagt der Chef des Marktführers Netor.com:

Der Raum des Internet heißt Grenzenlosigkeit. Das endlose Andenken an die Familienangehörigen und die dauernde Erinnerung an Freunde werden in der digitalen Welt aufbewahrt und vergehen nicht mit der Zeit. Alles wird gespeichert; und ein Ortswechsel bringt auch keinen Verlust mit sich.

In einem Land wie China, wo Opferriten eine lange Tradition haben, ist der Cyber-Friedhof geradezu "in": Tendenz steigend. Der Grund liegt wohl darin, so meinen mindestens die Internetanbieter von Cyber-Friedhöfen, dass das Andenken an die Verstorbenen wach zu halten im Netz zu jeder Zeit möglich ist, und zudem auf sehr einfache Weise! 365 Tage im Jahr kann man, wenn man will, jederzeit ins Internet gehen, die Tür zum Gedenkraum für die Verstorbenen öffnen, einen Cyber-Blumenstrauß hinlegen, Cyber-Kerzen anzünden und auf die innere Stimme horchen. Es ist ein wunderbares, lukratives Geschäft, dessen ideologische Komponente aber um so bemerkenswerter ist.

Gehen wir zu dem bekannten "Wanfo Yuan" Friedhof für Auslandschinesen in Peking, wo auch viele einheimische Toten begraben sind. Bis zum diesjährigen Qingming-Fest haben schon 23.850 User so genannte Cyber-Gedenkräume eingerichtet. Mit einem Mausklick kann ein Besucher einen digitalen Blumenstrauß auf den Bildschirm zaubern - direkt vor das Cyber-Grab des Verstorbenen. Man kann noch Lieder für den Verstorbenen auswählen, virtuelle Räucherstäbchen und Kerzen anzünden und Wein einschenken. Außerdem kann man selbst Erinnerungsartikel schreiben, mit entsprechendem Link zum Lebenslauf des Verstorbenen, sowie Photoalben und Sammelbänden übergehen. Das ist dann die Homepage des Verstorbenen, digitales "Home" in einer imaginären Welt.

"Im Internet heißt die Zeit Ewigkeit"

In der traditionellen Jenseits-Vorstellung der chinesischen Bevölkerung gibt es Glaubens-Elemente wie zai tian zhi lin; das meint: die "Seele im Himmel"; oder dixia you zhi: also "in der Erde liegend spürt man noch etwas". Daher auch die ziemlich entwickelten Opferzeremonien in China. Kann er, der Verstorbene, nun das Klappern der Tastatur hören und das Klicken der "mouse" spüren? Beim besten Willen und bei kühnster Vorstellung hätte er zu Lebzeiten nicht auf die Idee kommen können - so eine Extravaganz, aber so einfach. Damit hat der Verstorbene, an den sich der jeweilige Internet-Nutzer wenden wird, wirklich nicht gerechnet. Als er lebte, hat er sich vielleicht einmal geschämt, dass er zum Qingming-Fest keine Zeit gefunden hat, zum Grab seiner Ahnen zu gehen und hat versucht, es zu verheimlichen. Er war sicher nicht der einzige.

Heute verwaltet Netor über 23.900 Luxus- und Standardgräber, berichtet Marketingchef Li Shixiang. "Menschliche Gefühle sind ebenso wenig greifbar wie digitale Weiten. Das passt gut zusammen", philosophiert dieser virtuelle Totengräber. Die New York Times (vom 01.04.2000) betrachtet die Erfolgsstory von Netor als eine geradezu sagenhafte Geschichte. Netor hat noch eine englische Version für Interessenten. Auf der Frontseite dieses Cyber-Friedhofs sieht der Besucher inzwischen auch ein großes Bild vom Unglücksort des 11. September - mit dem Untertitel: "In Memory of the Victims in the World Trade Center." Dies ist nämlich der Link zu "Condolence Online".

Heute haben sich die meisten Chinesen noch nicht von den so genannten "vulgären Bräuchen" gelöst. Immerhin machten bis Ende 2002 die rund 59,1 Millionen Internetnutzer des Landes nur 4,6% der Gesamtbevölkerung Chinas aus. In der chinesischen Debatte über das Internet in China wird immer wieder behauptet, dass das neue Medium nicht nur eine technische Revolution ist, sondern viel mehr noch eine gesellschaftliche. Der Chatroom zum Beispiel verändere geradezu die zwischenmenschlichen Beziehungen. Der 'private' 'Chatroom' auf dem Cyber-Friedhof verändere mehr oder weniger auch die Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits.

Im Volksglauben wohnt der Heimgegangene unter der Erde. Das Grab in der Erde ist das Haus, die Grabhügel sind das Dach. Wind und Regen der Jahreszeiten sowie Unkraut können das "Haus" beschädigen. Deshalb muss das Grab von Unkraut gereinigt, die Hügel müssen neu aufgefüllt werden. Danach werden Fleisch, Fisch, Reis, Obst aufgetischt, besonders auch die Speisen, die der Verstorbene zu Lebzeiten gern gegessen hat. Dazu noch Wein und Weihrauch. Nicht imaginär sind die Tränen. Die Lebenden möchten damit ihre Pietät und ihr Andenken ausdrücken. Und von dieser Pietät hält man im realen Leben sehr viel. Die Kinder sehen das.

Mit dem Cyber-Friedhof ist das Andenken an die Toten supermodern geworden, aber online kann man sicher nicht das Grab von Unkraut reinigen. Am Opferaltar denkt man an die Heimgegangenen, betet dabei zugleich auch, dass die Ahnen die Lebenden beschützen mögen. Es ist ja der Glaube allgemein verbreitet im Volk, dass die Ahnen auch Schutzgeister der eigenen Familie sind, die den Lebenden Gesundheit und Glück wünschen. Können sie das jetzt, wenn es in der Dunkelheit da unten keine Netzverbindung gibt?

Qingming in einem altertümlichen chinesischen Dorf: Die Kinder gehen Blumen pflücken; man sieht sie auf der Schaukel hin und her schwingen; sie lassen Drachen steigen. Das Fest ist nämlich von allerhand Sagen umsponnen, durch welche die damit verbundenen Bräuche erklärt werden sollen - manche sind mythisch. An jeder Haustür des Bauernhofs stecken Weidengerten.

Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwissenschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier.