DER STAR, DAS VIRTUELLE WESEN
Seite 3: Stufe drei: der programmierte Star
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Zu denen, die sich gegenwärtig mit der Konstruktion solcher Synthespians beschäftigen, gehört Scott Billups, Eigentümer der Hollywooder Firma Electric Sandbox. Im Auftrag des US-Konzerns GTE baut er seine Frau Frankenstein. Sie heißt mit Vornamen Marilyn und verfügt über die assortierten Körperteile von einem halben Dutzend Monroe-Lookalikes. Die mußten sich allesamt einem Ganzkörperscan unterziehen, damit Billups der einen die Lippen, der anderen die Brüste und der dritten die Beine abnehmen konnte.
Noch erfolgt Zombie-Marilyns Animation per motion capture und ihre Bewegungen wirken, wie ein Beobachter schrieb, "so anrührend wie die ersten unsicheren Gesten eines Kindes". Doch Billups Ambitionen und die Anforderungen seiner Kunden gehen weiter: Damit die Kunstfigur ihren Zweck als interaktive Hostess im von GTE geplanten Online-Spiele-Netzwerk erfüllen kann, braucht sie "random consciousness", die Fähigkeit, physisch und sprachlich auf diverse Situationen reagieren zu können. Eines nicht so fernen Tages, witzelt Billups, werde man Marilyn dann als GTE-Vertreterin in David Lettermans Talkshow entsenden.
Vergleichbare Ziele verfolgen die Schöpfer der primitiven Poppuppe Kyoko Date, dem ersten virtuellen Idol aus Japan. Kyoko verfügt über einen fiktiven Lebenslauf und hat ein paar Songs eingespielt. Allerdings besteht sie aus lediglich 40 000 Polygonen, wirkt kleiderständerhaft steif und könnte graphisch in keinem Hollywoodfilm mithalten.
Beide Kunstfiguren, im Umkreis von Werbung und Musikvideo entstanden, gehen immerhin ein Stück weit den Weg in Richtung virtueller Schauspieler. Was ihnen über die graphische Qualität hinaus vor allem aber noch fehlt, ist physische Teil-Autonomie. Sie jedoch stellt die Grundvoraussetzung erfolgreicher Synthespians dar; ob es sich bei ihnen nun um vollkommen neue Filmhelden nach dem erfolgreichen Muster von Max Headroom handeln soll oder um Stars des klassischen Hollywoodkinos, die viele gerne wiederbeleben würden - die juristischen Voraussetzungen, um zum Beispiel neue Spielfilme mit dem Komiker George Burns und dem Action-Star Bruce Lee zu drehen, haben weitsichtige Produktionsfirmen bereits geschaffen.
Auch rudimentäre Mittel zur Simulation physischer Autonomie existieren. Kommerzielle Programme wie "Vactor", "Alive" und "Kinemation", ohne das "Jurassic Park" nicht denkbar gewesen wäre, speichern Wissen über Bewegungsabläufe. Es sorgt dafür, daß etwa Bälle, die Wände treffen, sich automatisch entsprechend verformen oder daß bei der Ausführung von Handbewegungen bestimmte Muskeln selbsttätig kontrahieren. Eine Automatisierung von Bewegungen, insbesondere von Haaren und Kleidung, erlaubt ebenfalls die von den Schweizer Professoren Nadia Magnenat Thalman und Daniel Thalman mit Förderungsgeldern der EG entwickelte Software namens - you guessed it - Marilyn.
Das Hauptziel in unserem Ansatz besteht darin, intelligente autonome virtuelle Menschen oder Schauspieler zu bauen. Mit intelligent meinen mir virtuelle Menschen, die in der Lage sind, basierend auf einem Modell des gegenwärtigen Zustands des virtuellen Welt, Aufgaben zu planen und durchzuführen. Mit autonom meinen wir, daß die Schauspieler keiner kontinuierlichen Eingriffe durch den Benutzer bedürfen. Unsere autonomen Schauspieler sollten auf ihre Umwelt reagieren und Entscheidungen treffen können, entsprechend ihrer Wahrnehmungssysteme, ihrer Erinnerung und ihrer Denkfähigkeit.
Nadia und Daniel Thalman
In dieselbe Richtung will man bei Digital Domain mit dem Projekt HARD (Human Animation Research and Development) und bei dem Hollywood-Newcomer Mirage mit dem Programm "Lifeforms". Beide Firmen zielen auf die Produktion von digitalem DNA - dem Material, aus dem das im Computer generierte Leben sein soll.
Bei Digital Domain läßt Scott Ross den Prototypen eines virtuellen menschlichen Schauspielers konstruieren. Aus seiner Erfahrung mit "Jurassic Park" kannte er die Mühen, Muskelkontraktionen, die in der Animation fehlten, anschließend einzelbildweise hineinzumalen. "Können wir nicht in die Software etwas einbauen", fragte er sich, "daß es den Muskeln und dem Gewebe erlaubt, sich anatomisch korrekt zu verhalten, ohne daß sich die Animatoren darum kümmen müssen?"
Bei dem von ihm initiierten HARD-Projekt soll ein Synthespian Schicht für Schicht herbeigebastelt werden: vom Knochenbau über die Muskeln, deren mögliche Bewegungen dem medizinischen Kenntnisstand entsprechend einzeln programmiert werden, bis zu Haut und Haaren. Die Schwierigkeiten, mit denen die Programmierer dabei konfrontiert werden, sind enorm. Allein für einen einfachen Muskel wie den Bizeps sind acht verschiedene Faktoren in Betracht zu ziehen, bei der Bewegung des Unterarms wirken schon achtzehn verschiedene Muskeln zusammen, und die Simulation einer Schulter ist noch einmal um ein Vielfaches komplizierter. Alles in allem wird das Projekt, das Digital Domain immer dann weitertreibt, wenn die Herstellung der aktuellen Auftrags-Trickarbeiten Rechnerkapazität und Zeit freiläßt, Dollarmillionen in zweistelliger Höhe verschlingen.
Doch hat man erstmal einen Menschen, hat man sie alle, meinte Digital-Künstler Kevin Mack, Ex-Bodyuilder und Mitbegründer des HARD-Projekts, bereits 1995. Wie die Dinosaurier aus "Jurassic Park" mit geringem Aufwand für die "Flintstones" recycelt wurden, wird man auch die Datensammlung, aus der ein menschlicher Synthespian besteht, beliebig oft kopieren und mit wenig Aufwand modifizieren können. Man wird den virtuellen Adam multiplizieren und seine Abkömmlinge recht mühelos größer, kleiner, dünner, dicker, jünger, älter machen. Selbst eine Geschlechtsumwandlung oder die Adaptation an die äußere Erscheinungsform verschiedener Menschenrassen stellt dann ein vergleichsweise geringes Problem dar.
Wir haben mit der Erzeugung realistischer Zellen angefangen und darauf aufgebaut, und weil die Zellen so wirklich sind, sieht auch das Hautgewebe wirklich aus.
Micael Rosenblatt von Mirage
Mirage "Lifeforms"-Programm basiert dagegen auf den fünfzehnjährigen Erfahrungen der Firma in der Biomedizin und der medizinischen Scanning-Technik - einer der beiden Firmengründer ist der Harvard-Neuropsychologe Ivan Gulas, ein Experte für die Beziehung zwischen menschlichen Emotionen und ihrem körperlichen Ausdruck. Anfang dieses Jahres eröffnete die Firma aus Massachusetts eine Dependance in Hollywood. Erste Demonstrationen zeigten die Simulation eines blinzelnden Auges, bei dem die Gesichtsmuskeln und die Haut reagieren wie im wirklichen Leben auch. Bei den special-effects-Experten riefen sie allgemein Bewunderung hervor.
Virtual Humans - eine Wachstumsindustrie
Mirages Gang nach Hollywood ist Teil einer größeren Bewegung. Zunehmend greift nämlich die finanzkräftige Filmindustrie bei ihrer Suche nach dem perfekten Synthespian auf Entwicklungen in anderen Branchen zurück, die ebenfalls an virtuellen Menschen interessiert sind.
Jenseits der Unterhaltungsindustrie sind das vor allem die Militärs. US-Marines trainieren schon heute auf virtuellen Schlachtfeldern im Kampf gegen die "DI-Guy"-Gegner der Firma Boston Dynamics, und die US-Luftwaffe läßt ihre Piloten gegen das virtuelle Flieger-As antreten, das Professor Paul Rosenbloom an der University of California entwickelte.
In der zivilen Forschung hingegen sucht man virtuelle Ersatzmenschen vor allem als geduldige Mitspieler und Opfer: als realistisch re-agierende Bevölkerung in 3-D-Architektur- und Verkehrssimulationen, als digitale Vor-Arbeiter in ergonomischen Studien, als unverwüstliche Crash-Test-Dummies in Sicherheitstests, als medizinische Versuchskaninchen - Professor Norman Badler vom Center for Human Modeling and Simulation der University of Pennsylvania hat seinen virtuellen Menschen Blutdruck, Atmung und neurologische Reaktionen soweit einprogrammiert, daß ihr virtuelles Gehirn bei Sauerstoffmangel medizinisch korrekt stirbt.
Am breitesten aber ist der Bedarf an virtual humans in der Unterhaltungsindustrie - als Gegner und Partner in Video- und Computerspielen, als Instruktoren in Lernsoftware, als Cyberführer durch virtuelle Realitäten, als Verkäufer im Internet, als Croupiers beim Online-Glücksspiel, als realistische Simulationen in Themeparks und, last but not least, eben als Synthespians im Fernsehen, im Kino und in Web-Soaps.
Die Interessen der finanzstarken Entertainment-Bastler konvergieren dabei mit denen der wissenschaftlichen Forscher, mit den Zielen der diversen virtual-humans-Experimente aus den Bereichen Künstliche Intelligenz, Expertensysteme, Virtual Reality, Augmented Reality und Robotik. Eine Konferenz, gesponsort von Silicon Graphics, der Computerfirma, auf deren Maschinen die Mehrheit aller Simulationen läuft, brachte vergangenen Sommer denn auch erstmals Wissenschaftler und Praktiker aller Sparten zusammen - natürlich in Los Angeles.
"Virtuelle Menschen", prophezeite Sandra Kay Helsel, Chefredakteurin der "VR News" im Einladungstext, "werden die Wachstumsindustrie der neunziger Jahre sein."