"Dann leben wir auf einem anderen Planeten!"

Überschwemmungen werden zunehmen und die Landfläche der Erde verkleinern. Ein Effekt der Erderhitzung. Wenn nicht umgesteuert wird, droht der Kollaps. Bild: pxhere / CC0

Klimaforscher Anderson sagt: Wir steuern auf eine katastrophale Erderhitzung zu. Doch Regierungen täuschen weiter beim Klimaschutz. Auch Wissenschaftler machen beim Greenwashing mit. (Teil 1)

Wir befinden uns auf dem Weg in eine Welt, die drei bis vier Grad wärmer sein wird, sagt der renommierte Klimaforscher Kevin Anderson vom britischen Tyndall Center for Climate Change Research. Er berät Regierungen und auch Greta Thunberg in wissenschaftlichen Fragen.

Kevin Anderson ist Klimawissenschaftler und ehemaliger Direktor des Tyndall Center for Climate Change Research.

Im Interview mit David Goeßmann von Telepolis erklärt Anderson, worauf wir zusteuern, wenn der Kurs nicht umgehend geändert wird. Kein Staat der Welt, allen voran die Industriestaaten, sei auf 2-Grad-Kurs, ganz zu schweigen von 1,5 Grad. Aber nicht nur Regierungen versagen und täuschen weiter beim Klimaschutz. Auch eine Reihe von Klimawissenschaftler:innen trägt Verantwortung dafür, dass die Krise nicht ernst genommen wird. Das sei "sehr gefährlich". Viel Zeit zum Umsteuern bleibe nicht mehr.

Worauf bewegen wir uns derzeit in Bezug auf die Temperatur zu? Und welche Auswirkungen hätte das auf die Welt und auf uns?
Kevin Anderson: Es ist schwer zu sagen, worauf wir uns zubewegen, aber meiner Einschätzung nach auf eine Erwärmung auf rund drei bis vier Grad Celsius in diesem Jahrhundert. Wenn das eintritt, leben wir auf einem anderen Planeten.
Schauen wir uns den jüngsten Report des IPCC an, den SR 1.5. Darin wurden die Auswirkungen von 1,5 Grad Erwärmung auf das Klima untersucht und mit einem 2-Grad-Szenario verglichen. Bei 1,5 Grad werden z.B. etwa drei Viertel des Great Barrier Reefs und anderer tropischer Korallenriffe vernichtet, bei zwei Grad alle.
Also selbst bei niedrigen Temperaturen und kleinen Unterschieden sind die Auswirkungen auf die Ökosysteme enorm. Und wie wird sich das auf die Insekten auswirken, die unsere Pflanzen bestäuben und uns bei der Nahrungsmittelerzeugung helfen? Die werden ebenfalls stark geschädigt werden, es geschieht bereits. Wir werden also große Probleme bei der Nahrungsmittelproduktion bekommen.
Dürren und Überschwemmungen werden das Ganze noch verschlimmern. Militärische Konflikte, wie wir sie in einigen Teilen der Welt sehen, werden zunehmen und die Stabilität der Gesellschaften, ihre Industrien und die Landwirtschaft, auf die die Menschen angewiesen sind, gefährden. Es ist abzusehen, dass bei einer Erwärmung von drei bis vier Grad viele unserer derzeitigen Ökosysteme zusammenbrechen. Sie werden sich über sehr lange Zeiträume sicherlich zu neuen Ökosystemen entwickeln.
Viele unserer menschlichen Systeme werden nicht in der Lage sein, mit diesem Ausmaß an Veränderung umzugehen. Drei oder vier Grad in einer Million Jahre sind kein Problem. Drei oder vier Grad in einigen tausend Jahren sind auch nicht dramatisch. Drei oder vier Grad in hundert Jahren sind eine Katastrophe. Wir müssen uns darüber klar werden, dass unsere menschlichen und ökologischen Systeme mit solch einem Veränderungstempo nicht mithalten können.
Wir hören immer wieder große Reden von Staatschefs bei Klimagipfeln oder G-7-Treffen. Sie geben vor, die Welt zu retten und Klimaschutz zu betreiben. Die Realität sieht ein bisschen anders aus. Erzählen Sie uns von der Realität.
Kevin Anderson: Viele der Regierungschefs nehmen den Klimawandel nicht ernst und ergreifen nicht annähernd die politischen Maßnahmen, die notwendig sind, um die Verpflichtungen, die sie unterzeichnet haben, zu erfüllen.
Die Realität sieht heute so aus: Wenn wir das Pariser Abkommen einhalten wollen, also deutlich unter zwei Grad Celsius und idealerweise bei nur 1,5 Grad bleiben wollen, was auf dem G7-Gipfel im Mai dieses Jahres nochmals bekräftigt wurde, haben wir nur noch wenige Jahre Zeit, um unsere Emissionen zu reduzieren. Für die wohlhabenden Teile der Welt muss der Energieverbrauch, der von der Industrie, Gebäuden, dem Flugverkehr, Schiffen oder Autos kommt, bis etwa 2030, spätestens 2035 vollkommen emissionsfrei sein, um die1,5-Grad-Erwärmung noch einhalten zu können.
Die ärmeren Länder haben etwas mehr Zeit, entsprechend der so genannten "gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung", der Gerechtigkeitskomponente der Klimaabkommen. Sie haben aber auch nur etwa zehn bis maximal 15 Jahre mehr Zeit, um ihre Emissionen auf null zu reduzieren. Aber es gibt weiter bisher keine Zusagen, die den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen. Stattdessen hört man hochtrabende Netto-Null-Zusagen, die in Bezug auf die Klima-Herausforderungen nahezu bedeutungslos sind.

Falsche Klimavorreiter: "Es klafft eine riesige Lücke."

Der Guardian berichtete, dass wir, wenn alle beim Klimagipfel in Glasgow gemachten Zusagen eingehalten werden, die Temperatur unter zwei Grad halten könnten. Es gibt noch eine andere Zahl, 2,7 Grad, die eine Studie, ich glaube von den Vereinten Nationen, ergab, wenn alle Staaten ihre Versprechen einhalten würden. Was halten Sie von all diesen Zahlen?
Kevin Anderson: Wir sollten zunächst einmal bedenken, dass wir heute nicht mehr in der gleichen Lage sind wie 2015 in Paris. In den letzten sechs Jahren haben wir jährlich etwa 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Wir sprechen also von einer riesigen Menge an Kohlendioxid seit Paris.
Die Herausforderung ist also viel größer, und der Fokus liegt heute zudem auf der 1,5-Grad-Verpflichtung. Was der Guardian über die 1,8 oder 1,9 Grad, je nachdem, welche Studie man liest, berichtet, ist daher extrem irreführend.
Erstens wird davon ausgegangen, dass eine Regierung, wenn sie Netto-Null sagt, null meint. Das tut sie aber nicht. Wenn Regierungen Netto-Null sagen, meinen sie, dass sie in der Zukunft irgendeine Art von Technologie einsetzen werden, die es heute noch nicht gibt, um Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen. Sie wollen damit ihre Emissionen kompensieren.
Der Bestand von Autos soll mehr oder weniger gleich bleiben, nicht reduziert werden, es soll weiter geflogen werden, der Wohnungsbestand in Städten soll beibehalten werden. Wir sehen überall, dass die Staaten nicht bereit sind, ihre Emissionen auch nur annähernd so weit zu reduzieren, wie es nötig wäre.
Unsere Kinder und Kindeskinder sollen das Zuviel an Treibhausgasen kompensieren, indem sie Technologien entwickeln müssen, um unser Kohlendioxid im Jahr 2050 aus der Atmosphäre zu entfernen. Nur wenn man glaubt, dass das eine akzeptable Annahme ist, kommt man bei ungefähr 1,8 oder 1,9 Grad an. Wenn nicht, dann landet man bei drei Grad Erwärmung, wenn nicht höher.
Sie haben eine Studie veröffentlicht, in der Sie zeigen, dass selbst so genannte ehrgeizige Länder wie Schweden und Großbritannien weit hinter dem zurückbleiben, was nötig ist, um die Temperatur sogar unter zwei Grad zu halten. Erläutern Sie das.
Kevin Anderson: In der Studie haben wir das Pariser Abkommen genommen und unter Verwendung der wissenschaftlichen Daten des IPCC die Höhe des Kohlenstoffbudgets berechnet, also die globale Gesamtmenge an Kohlendioxid, die wir noch ausstoßen können. Wir haben das Kohlenstoffbudget auf die Industrie- und die Entwicklungsländer dann verteilt und errechnet, was das für Großbritannien und Schweden bedeutet. Zwei Industriestaaten also, die ziemlich klare Klimaschutzziele haben.
Dann haben wir die Emissionen, zu denen sich die Regierungen verpflichten, verglichen mit unserer Berechnung der für Paris erforderlichen Emissionsmenge. Dazwischen klafft nun eine riesige Lücke. Mit den Maßnahmen der britischen und schwedischen Regierungen kommt man letztlich auf eine Erwärmung, die bei 2,5 bis drei Grad Celsius liegt, nicht bei 1,5 bis zwei Grad.
Ein Grund dafür ist, dass der Gerechtigkeitsaspekt völlig außer Acht gelassen wurde. Die reichen Länder gehen davon aus, dass sich ihre Reduktionsraten nicht von denen der ärmeren Länder unterscheiden. Das widerspricht aber unserer Verpflichtung zu Fairness. Das geht also nicht.
Zweitens sind Pläne in hohem Maße auf die Zukunftstechnologien angewiesen, die noch nicht oder nur in sehr kleinen Pilotprojekten existieren, um in den kommenden Jahren große Mengen an Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen.
Die Kombination dieser beiden Faktoren, die Verteilungsgerechtigkeit und die Abhängigkeit von Zukunftstechnologien, haben dazu geführt, dass die nationalen Verpflichtungen das Ausmaß der tatsächlichen Reduktionsanstrengungen verschleiern. Und das bedeutet, dass wir mit diesen Angeboten eher eine Erwärmung von 2,5 bis 3 Grad erhalten.
Sie haben in Ihrer Studie die Zementproduktion und Abholzung als globale Größe angesetzt. Das ist etwas Besonderes. Ich kenne das aus keiner anderen Studie. Warum haben Sie das getan?
Kevin Anderson: Dafür gab es zwei wichtige Gründe. Unser Schwerpunkt lag auf dem Energiesektor. Es gibt da kohlenstofffreie Energieformen. Sie stehen den Industriestaaten zur Verfügung. Sie sind gut erforscht, einige davon nutzen wir bereits.
Was nun Zement angeht: Ihre Herstellung macht etwa acht Prozent der weltweiten Emissionen aus. Etwa die Hälfte stammt aus der Energie, die bei der Produktion von Zement verwendet wird. Das könnten wir jetzt kohlenstoffarm machen. Aber die anderen vier Prozent – ein sehr großer Anteil – entstehen beim chemischen Prozess der Zementherstellung. Diese Emissionen sind schwieriger zu reduzieren, es geht, aber nicht sofort.
In wohlhabenden Teilen der Welt wird nur noch wenig Zement verwendet. Denn bei uns sind die Gebäude, Infrastruktur, Kraftwerke, Straßen und Bahntrassen längst gebaut. Die ärmeren Länder müssen ihre Wasserversorgung und Abwassersysteme, ihre Bus- und Bahnstrecken sowie Gebäude noch ausbauen. Dafür brauchen sie sehr viel mehr Zement als wir. Es wäre also sehr unfair, diese Länder dafür zu bestrafen und ihre Entwicklung zu beeinträchtigen, indem sie die Emissionen für Zement allein tragen müssen.
Sinnvoll ist daher, hier von globalen Emissionen zu sprechen. Wir dürfen die Zement-Emissionen natürlich nicht ignorieren. Sie sollten überall, auch in den Entwicklungsländern schnell reduziert werden. Die reichen Länder sollten den ärmeren helfen, auf kohlenstoffarmen Zement umzusteigen. Dafür können auch Technologien wie die sogenannte CO2-Abscheidung und -Speicherung angewendet werden. Das halte ich zwar im Energiesektor für nicht ratsam, aber ich denke, dass es für Zement und Stahl sinnvoll ist.
Zement ist also eine globale Angelegenheit, die aus Gerechtigkeitsgründen gemeinsam angegangen werden muss. Das gleiche gilt beim Thema Entwaldung. In den Industriestaaten wie Großbritannien sind nur 13 Prozent der Landfläche bewaldet. Wir haben also unsere Wälder bereits gerodet, und das gibt uns genügend Land für die Landwirtschaft und so weiter. Die Emissionen bei der Entwaldung den armen Ländern allein aufzubürden, würde sie für etwas bestrafen, was wir bereits getan haben. Natürlich wollen wir nicht, dass Wälder weiter abgeholzt werden. Aber es liegt nicht nur in der Verantwortung der Entwicklungsländer, sondern auch in unserer. Es ist also eine gemeinsame Aufgabe, bei der wir helfen müssen.

"Was einige Wissenschaftler getan haben, halte ich für sehr gefährlich."

Berichte des Global Carbon Project und der Washington Post weisen auf eine riesige Lücke hin, zwischen den Emissionsangaben der Staaten bei der Uno und dem, was tatsächlich ausgestoßen wird. Was heißt das und was bedeutet es für uns?
Kevin Anderson: Wenn sie Recht haben und es diese riesige Lücke gibt, ist das ein großes Problem. Denn wir müssen immer daran denken, dass sich die Physik und der Klimawandel nicht um unsere Schönrechnereien scheren. Sie reagieren nur auf die absolute Menge der Emissionen. Wenn also Länder absichtlich falsche Zahlen nennen oder ihre Daten versehentlich unterschätzen, wird sich das Klima gemäß den tatsächlichen Emissionen weiter erwärmen. Und die politischen Maßnahmen werden nicht auf der Basis des realen Anstiegs ergriffen.
Wir müssen also sicherstellen, dass die Daten zuverlässig sind. Besonders besorgniserregend ist es, wenn es absichtliche Falschangaben sind. Ich hoffe also, dass wir die Fehler schnell erkennen und beheben. Wir brauchen exakte Zahlen, um angemessen handeln zu können.
Sie haben Ihre Kollegen dafür kritisiert, dass sie in der Öffentlichkeit nicht die volle Wahrheit sagen. Warum?
Kevin Anderson: Ich kritisiere vor allem Einzelne, nicht alle – hauptsächlich die leitenden Forscher, aber auch andere.
Sie wollen keine Namen nennen?
Kevin Anderson: Noch nicht. Nein, ich möchte sie nicht beim Namen nennen. Sie tun es oft mit guten Absichten – aber es ist nicht richtig. Privat erzählen sie mir von ihrer Arbeit, wie schlimm die Situation ist, und dann zeichnen sie in der Öffentlichkeit ein hoffnungsvolleres Bild, was ihrer Forschung aber nicht entspricht. Und manchmal ist der Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen sehr groß.
Sie unterstützen auch Technologien in Modellen, von denen sie nicht überzeugt sind, dass sie funktionieren. Aber sie verwenden sie, um die Aufgabe leichter erscheinen zu lassen. Sie müssen dann die politischen und wirtschaftlichen Vorgaben nicht infrage stellen. Einige begründen das damit, dass das Wirtschaftsmodell nicht geändert werden kann. Deshalb müssten wir unsere Annahmen aufweichen und so darüber sprechen, dass es attraktiv wirkt.
Das mag für eine NGO, einen Imageberater oder eine politische Partei angemessen sein. Für Wissenschaftler halte ich das aber für völlig unangebracht. Unsere Aufgabe besteht darin, sorgfältig zu forschen und wenn wir uns irren – was gelegentlich vorkommt – die die Ergebnisse dem entsprechend zu ändern. Die Daten sollten klar und deutlich kommuniziert werden. Die Forschung ist nicht dafür da, NGOs oder politischen Entscheidungsträgern etwas attraktiv zu machen. Es zählen allein die wissenschaftlichen Inhalte.
Was einige Wissenschaftler getan haben, halte ich für sehr gefährlich. Es wurden Modelle entwickelt, die sich der Politik anpassten. Und je mehr Zeit verging, je schwieriger die Herausforderungen wurden, umso illusionärer wurden sie, die wissenschaftlichen Erkenntnisse kamen unter die Räder. Das erlebe ich immer wieder.
Ein Beispiel. Als ich kürzlich an einer Veranstaltung teilnahm, sagte die Vortragende: "Wissen Sie, die Lage ist schwierig, aber wir können etwas tun". Später, im Zug, schlug sie dann die Hände über den Kopf zusammen und sagte mir – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise: "Wir sind am Arsch, wir sind total am Arsch." Ich denke nicht, dass sie diese Sprache im Seminar hätte benutzen sollen. Aber sie hätte dort die Lage adäquat schildern sollen, nicht nur mir persönlich. Wenn wir die politischen Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit falsch informieren, wie können sie dann eine Politik entwickeln, die zu den Tatsachen passt?

Prof. Kevin Anderson hat einen Lehrstuhl an der School of Engineering der Universität Manchester und am Centre for Environment and Development Studies (CEMUS) der Universität Uppsala inne. Er war zuvor Direktor des Tyndall Centre for Climate Change Research. Anderson veröffentlicht seine Forschungsberichte u.a. in Science, Nature und Nature Geosciences. Anderson berät diverse Regierungen und Behörden (EU, Großbritannien und Schweden) zu Themen wie Schiefergas, Luftfahrt und Schifffahrt bis hin zur Rolle der Klimamodellierung (IAMs), Kohlenstoffbudgets und "negativen Emissionstechnologien". Er hat Paris-konforme Kohlenstoffbudgets errechnet und Empfehlungen für das britische Klimaschutzgesetz erarbeitet. Zudem berät Anderson Greta Thunberg in wissenschaftlichen Fragen.