"Das ETA-Dementi passt Madrid nicht in den Kram"
Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit, im Telepolis-Gespräch über die politischen Auswirkungen der Terroranschläge in Madrid und das Dilemma der Regierung von José Maria Aznar
Die Bomben in Madrid explodierten vier Tage vor den spanischen Parlamentswahlen. Bislang galt ein Wahlsieg für die konservative Volkspartei unter José Maria Aznar am Sonntag als beinahe sicher. Mit dem Terror könnte sich das nun ändern: Nachdem die Separatistenorganisation ETA die Verantwortung für die Terroranschläge gegen mehrere Nahverkehrszüge in Madrid Ende der Woche von sich gewiesen hat, mehren sich nach letzten Medienberichten die Anzeichen für eine Täterschaft radikalislamischer Gruppen (Terror vereint - und wird von der spanischen Regierung instrumentalisiert). In einem Bekennerschreiben an die in London erscheinende arabische Tageszeitung Al-Quds hatte sich eine vermeintliche Zelle des Al-Kaida-Netzwerkes bereits zu den Anschlägen bekannt und sie als Vergeltung für die Teilnahme der spanischen Armee an dem Krieg in Irak bezeichnet. Die überwältigende Mehrheit der spanischen Bevölkerung war gegen diesen Krieg. Aznar war dafür. Harald Neubeuer sprach mit Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.
Nach den Anschlägen in Madrid am Donnerstag ging die spanische Regierung sehr schnell von der Täterschaft der baskischen Separatistenorganisation ETA aus. Welche Anhaltspunkte gab es zu diesem Zeitpunkt für eine solche These?
Otfried Nassauer: Das müsste die spanische Regierung beantworten. Sie sagte zunächst, dass derselbe Sprengstoff (Titadyn) benutzt worden sei wie für frühere Anschläge der ETA. Diese These scheint widerlegt. Es wurde ein Sprengstoff (Special C/ Goma 2) gefunden, den die ETA seit Jahren nicht mehr benutzt hat. Auch die Zünder waren anscheinend nicht typisch für die ETA. Außerdem führten die spanischen Sicherheitskräfte an, Ende Februar seien zwei der ETA zuzuordnende Personen festgenommen worden, die versucht hatten, in einem Lieferwagen 500 Kilogramm Sprengstoff nach Madrid zu transportieren. Indizien werden von der spanischen Regierung im Sinne ihrer eigenen politischen Intentionen sehr schnell als Argument für eine gesicherte Täterschaft der ETA verwandt.
Vier Tage von der Parlamentswahlen könnten dafür politische Implikationen eine Rolle gespielt haben.
Otfried Nassauer: Dass eine schnelle Zuordnung der Schuld an die ETA der konservativen Regierung nutzt, steht außer Zweifel. Ich habe schon nach der Stellungnahme von Arnaldo Otegi, dem Sprecher der inzwischen verbotenen Baskenpartei Herri Batasuna, meine Zweifel an einer Täterschaft der ETA bekommen. Wenn er sich am Tag des Anschlags so überrascht zeigte, dann ist das ein signifikantes Anzeichen dafür, dass sich entweder in der ETA gewaltig etwa geändert hat, oder die ETA nicht damit zu tun hat...
... was sie am Freitagabend ja gegenüber dem baskischen Fensehen ETB und der Zeitung Gara erklärt hat.
Otfried Nassauer: Das sind zwei Medien, über die sich die ETA schon öfter an die Öffentlichkeit gewandt hat. Dass die konservative Regierung jede Relevanz dieser Stellungnahmen bestreitet, zeigt, dass ihr dieses Dementi zwei Tage vor den Wahlen so gar nicht in den Kram passt.
Zahlreiche Redaktionen inner- und außerhalb Spaniens haben die ETA-These trotzdem schnell - teilweise sogar in Spezialsendungen - aufgegriffen. War das nicht etwas vorschnell?
Otfried Nassauer: Dieses Phänomen hat es zunächst gegeben. Ich habe aber auch Beiträge mitbekommen, die sehr schnell zu einem vorsichtigen Ton wechselten. Die Annahme, dass die baskische ETA einen Anschlag solchen Ausmaßes ausschließlich gegen Zivilisten und nicht gegen staatliche Strukturen durchführt, wich zu sehr von den bisherigen Erfahrungen ab.
Weshalb hat sich die Frage der Täterschaft auch in der spanischen Innenpolitik so schnell zu einem Streitpunkt entwickelt?
Otfried Nassauer: Die Alternative zu der von der konservativen Regierung unter José Maria Aznar formulierten These eines ETA-Anschlags wäre die Täterschaft einer islamistischen Gruppe gewesen. Genauer gesagt: Radikalislamistischer Sunniten, die der spanischen Regierung mit einem solchen Anschlag die Quittung für deren proamerikanische Haltung im Krieg gegen Irak geben wollten. Der politische Effekt eines solchen Anschlages wäre unmittelbar vor den Parlamentswahlen das erneute Aufflammen der innenpolitischen Debatte um Aznars Befürwortung des Irak-Krieges und das militärische Engagement Spaniens im Irak gewesen, gegen das sich die Mehrheit der Bevölkerung gewandt hatte.
Der PSOE-Politiker Eduardo Uriarte, bis zu seiner Festnahme Anfang der siebziger Jahre selber Chef der ETA, zählt heute zu den schärfsten Kritikern der Separatisten. Er spricht von einer wahrscheinlichen Allianz zwischen ETA und Al-Qaida ...
Otfried Nassauer: Es gibt auch angeblich Geheimdienste, die etwas von Spitzentreffen beider Organisationen mitbekommen haben wollen. Ich genieße solche Thesen derzeit noch mit Vorsicht. Anzunehmen, dass die ETA einen Anschlag in dieser Größenordnung ausschließlich gegen Zivilisten durchführt, würde ja bedeuten, dass die Organisation ihr Selbstbild, Befreiungsbewegung zu sein, restlos aufgegeben hätte. Denn wer will schon von Massenmördern befreit und später potentiell regiert werden?
Welche Auswirkungen hätte es sicherheitspolitisch, wenn ausschließlich eine islamistische Gruppe für die Anschläge verantwortlich zeichnete?
Otfried Nassauer: Radikal-islamistische Gruppen sind seit Jahren in Europa aktiv. Das konnte man auch im Kontext der Anschläge am 11. September 2001 sehen, bei deren Planung nicht nur die Hamburger Gruppe, sondern auch Akteure in Spanien eine Rolle gespielt haben. Wenn die Anschläge in Madrid islamistischen Gruppen zuzurechnen wäre, dann hätte deren "heiliger Krieg gegen die Kreuzzügler" Europa endgültig erreicht. Und dieses Europa müsste sich schleunigst Gedanken machen, wie eine europäische Antwort aussehen könnte, die nicht in das Huntingtonsche Muster vom "Kampf der Kulturen" passt.
Die "Allianz gegen den internationalen Terrorismus" hat hier also erst eine offene Flanke geschaffen?
Otfried Nassauer: Man kann es eine offene Flanke nennen. Man kann es aber auch Unvorsichtigkeit oder Dummheit nennen, solchen Strukturen die Nutzung europäischen Territoriums als strategisches Rückzugsgebiet oder Ruheraum zu erlauben, statt präventiv dagegen vorzugehen.
Also mehr und leichtere Abschiebungen, wie es die CDU-CSU-Fraktion Ende der Woche forderte?
Otfried Nassauer: Jeder Terroranschlag in Europa ruft gebetsmühlenartige Forderungen nach Bundeswehreinsätzen im Inneren, mehr Polizei und BGS, neuer Sicherheitstechnik, größeren Fahndungsrechten und weniger Bürgerrechten hervor. Aber: Mit der Umsetzung dieser Forderungen werden meist demokratische Grundrechte ausgehöhlt, ohne dass eine verschärfte Sicherheitspolitik im Inneren unbedingt mehr Schutz schafft. Denken Sie nur an den großen Lauschangriff. Außerdem: Ein Restrisiko bleibt - ähnlich dem Betrieb eines Kernkraftwerkes - immer bestehen.
Gibt es Unterschiede in der Gefährdungslage innerhalb Europas?
Otfried Nassauer: Ja, und die wird es auch weiterhin geben, weil die Staaten der Europäischen Union unterschiedliche außenpolitische Linien verfolgen. Die islamistischen Terrororganisationen haben bisher scheinbar auch differenziert: Sie orientieren sich scheinbar an dem Ausmaß, in dem sich die jeweiligen Regierungen der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem 11. September 2001 angeschlossen haben, und damit nach Auffassung der Islamisten am Kreuzzug gegen den Islam teilnehmen.