Terror vereint - und wird von der spanischen Regierung instrumentalisiert

Viele Millionen Menschen sind gestern in Spanien auf die Straße gegangen, um in Massen gegen den Terror zu protestieren. Aber was steht dahinter: Wut, Solidarität mit den Opfern, Angst, Abwehrzauber, Trotz?

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Am FReitag Abend sind viele Millionen Spanier, gesprochen wird von bis zu 12 Millionen, auf die Straßen in vielen Städten gegangen, um gemeinsam die Terroranschläge vom 11.3. zu verurteilen - vermutlich aber aus unterschiedlichen Gründen. Allein in Madrid versammelten sich über 2 Millionen Menschen und skandierten unter anderem: "In diesem Zug sind wir alle gefahren", "Nein zum Terror" oder "Wir sind nicht alle, es fehlen 200". Nur vereinzelt waren Fordungen zu hören wie "Wir wollen bis Sonntag die Wahrheit". Nicht nur in der Öffentlichkeit trafen sich die Massen, auch die Massenmedien sorgten für eine Koordinierung der Mensen durch Teilnahme. Aber was bedeutet dieser Aufstand der Massen?

Der europäische 11.9. wird der vergangene Donnerstag bereits tituliert - und damit unterstellt, dass die Anschläge womöglich Europa ebenso umkrempeln werden, wie dies in den USA geschehen ist. In der Tat hat sich die Reaktion auf die schreckliche Tat, die um so ungeheuerlicher ist, weil sie trotz der vielen Opfer symbolischer Art ist und durch Erregung von Aufmerksamkeit Angst, Schrecken und Wut auslösen soll, in etwa so abgespielt wie in den USA. Die Nation schließt sich gegen einen Feind zusammen, interne Differenzen werden hintangestellt und verpönt, ein (ohn)mächtiges Wir-Gefühl stellt sich her.

Die Ablehnung des Terrorismus, der seine Anschläge blind gegen zufällige Opfer richtet und so unterschiedslos alle bestraft und bedroht, vereint die Menschen: "No al horror!" ist eine Art kollektiver Abwehrzauber gegenüber einem - zumindest noch - unbekannten Feind, der aus dem Geheimen heraus operiert. Der kollektive Aufruhr, der durch die Medien geht und die Menschen auf die Straßen treibt, ist zumindest dann ein Erfolg für die Terroristen, wenn sie keine innenpolitische Ziele verfolgen. Was für islamistische Terroristen also ein Beweis für die Effektivität ihrer "Arbeit" wäre, würde für die ETA eher ein Schuss nach hinten sein.

Die Massen demonstrieren der über die Medien vermittelten Öffentlichkeit und sich selbst, dass sie der Angst nicht nachgeben, dass sie die öffentlichen Plätze nicht meiden, dass sie zusammen bleiben wollen und der Opfer gedenken, dass der Feind nicht siegen wird, der sie alle ins Visier genommen hat. Darin mag auch ein Stück Hoffnung sein, die Feinde zu beeindrucken und von weiteren Anschlägen abzuhalten, wirklich glauben dürfte das niemand. Gleichzeitig bieten die Menschen durch Massenbildung in den urbanen Zentren auch der Gefahr die Stirn, indem sie just die Formationen bilden, die für Terroristen optimale Ziele wären.

Die instrumentalisierten Massen

Politiker versuchen die aufgewühlten Massen gleich zu instrumentalisieren. Während die oppositionellen Parteien ähnlich wie in den USA sich bislang noch zurückhalten, hat die Regierung zu den Demonstrationen aufgerufen und den ihr genehmsten Feind, die ETA, sofort in den Vordergrund gestellt, ohne zunächst auch nur den geringsten Hinweis dafür zu haben. Der eingeschlagene Weg, scharf und auch mit militärischen Mitteln sowie auf der Seite der USA gegen "den Terrorismus" jeder Art vorzugehen, indem man ihn auslöscht, soll durch die Anschläge bestätigt und verstärkt werden.

Am Donnerstag Nachmittag hatte offenbar die spanische Außenministerin Ana Palacio noch schnell die Anschläge für die regierende Volkspartei ausbeuten wollen und in einem Rundschreiben an alle Botschaften verlangt, dass diese jede Gelegenheit nutzen sollen, um zu bestätigen, dass die Tat von der ETA begangen worden sei. Damit sollten alle Zweifel, so Europa Press und Cadene Ser, wo man Einsicht in ein solches Rundschreiben gehabt haben soll, ausgeräumt werden, damit interessierte Parteien nicht anderen die Schuld zuweisen können.

Auch wenn nun zugestanden wurde, dass man in alle Richtungen untersuchen werde, dürfte klar sein, dass bis Sonntag, dem Wahltag, die Ermittlungsergebnisse eher zurück gehalten oder gebremst werden, falls sie in die falsche Richtung laufen. Davon gehen auch spanische Medien wie Vanguardia aus. Allerdings meldete El Pais bereits, dass in dem gefundenen Lieferwagen, in dem man Zünder und ein Band mit Koranversen entdeckte, auch die Sprengsätze transportiert worden sein sollen. Heute gab sich der Innenminister Ángel Acebes weiterhin davon überzeugt, dass die Täter aus den Reihen der ETA stammen müssen, und stritt ab, die Ermittlungen hinauszuzögern. Auch Mariano Rajoy von der Volkspartei, der als Nachfolger von Aznar zu den Wahlen antritt, spricht von einer "moralischen Überzeugung", dass die Tat von der ETA begangen wurde.

Im Nationalen Gerichtshof (Audiencia Nacional) geht man allerdings offenbar von islamistischen Tätern aus. Auch der spanische Geheimdienst Centro Nacional de Inteligencia geht nach einem Bericht von El Pais inzwischen von der 99prozentigen Überzeugung aus, dass die Täter islamistische Terroristen sind. Dafür könnte auch ein Text zeugen, den Angehörige des Norwegischen Forschungszentrums für Verteidigung letztes Jahr auf einer arabischen Website gefunden haben. In ihm wird auf die Wahlen hingewiesen, die man nutzen müsse.

Angst vor dem unheimlichen Feind

Möglicherweise war für die Massenbewegung als Ausdruck einer Nation , die sich unter Vereinigungs- und Konformitätsdruck nach einem Ereignis ausrichtet, auch die Angst ein Auslöser, dass mit den Anschlägen etwas Neues in die Geschichte Spaniens eingetreten sein könnte, falls die Täter aus dem islamistischen Hintergrund stammen. Die spanische Demokratie wurde stets begleitet von Anschlägen der baskischen Befreiungsbewegung. Mit allen Mitteln ist die spanische Regierung dagegen vorgegangen, die Gesellschaft selbst hat sich mehr und mehr gegen die Terroristen gestellt und dies in zahlreichen, wenn auch kleineren Kundgebungen demonstriert. Aber die baskischen Terroristen agieren aus der Gesellschaft, sie haben ein Ziel, das sich verstehen lässt, ohne es teilen zu müssen.

Der islamistische Terror kommt jedoch von außen, er ist religiös getönt und er ruft eine alte, grausame, offenbar unbewältigte und gerade auch in Spanien noch präsente Geschichte vom Kampf zwischen Islam und Christentum wach, die Ängste schürt. Zudem handelt es sich um einen Feind, der auch deswegen unheimlich ist, weil die muslimische Kultur im und auch nach dem Kalten Krieg niemand groß interessiert hat und deswegen so fremd wie die Sprachen ist. Der Westen, allen voran die USA, hat Islamisten zwar wie in Afghanistan im Kalten Krieg instrumentalisiert und gefördert, um der Sowjetunion zu schaden, aber nach Erreichen des Ziels, dem Zusammenbruch des alten "Reichs des Bösen" und der Abspaltung der islamischen Länder, hat der Dschihad sich auch gegen den Westen und gegen die von diesem unterstützten, nichtdemokratischen Regime gewandt und sich durch die Verknüpfung von lokalen Konflikten in Tschetschenien, im Kaschmir, in Palästina oder auch im ehemaligen Jugoslawien globalisiert. Der gefährliche Sprengsatz des islamistischen Terrorismus ist so die Verbindung der gemeinsamen Religion mit einer Befreiungsideologie für alle Länder mit einem überwiegenden Bevölkerungsanteil von Muslimen. Die Klammer ist vage, so dass sich im Prinzip viele unzufriedene Muslime von ganz konservativen bis politisch liberaleren damit identifizieren können.

In Europa sind alle Staaten mittlerweile von Aufklärung und Säkularisierung so erfasst worden, dass die Bedeutung der Religion - ganz im Unterschied zu den USA - auf einen Tiefstand gesunken ist: Jetzt in einen religiösen Konflikt hineingezogen zu werden, wobei der diffuse Feind, der überall auch im eigenen Land sitzt, die westliche Kultur ablehnt und zu Mitteln wie Selbstmordanschlägen gegen alle möglichen Ziele greift, könnte die Unheimlichkeit verstärken, die sowieso von einem kaum begreifbaren und noch weniger fassbaren globalen Netzwerk aus lose verknüpften Netzen ausgeht.

Paradoxerweise arbeitet das islamistische Terrornetzwerk, das nur aus Verlegenheit al-Qaida genannt wird und das auch keine hierarchische Struktur zu besitzen scheint, mit der modernsten Organisationslogik von parallel arbeitenden, räumlich zerstreuten und relativ autonomen Einheiten. Ähnlich wie beim Internet kann diese Struktur auch dann überleben und kommunikations- und handlungsfähig sein, wenn zahlreiche Einheiten zerstört wurden. Zudem dienen die avancierten technischen Mittel zur Planung und Durchführung der Anschläge, die wiederum genau den Nerv der globalen mediatisierten Öffentlichkeit treffen. Wollte man das Unverständnis in einem Bild kondensieren, so wäre dies vielleicht der Dschihad-Kämpfer am Laptop, der mit den Mitteln der westlichen Zivilisation diese angreift, um einen Gottesstaat zu schaffen.