Das Ende der Wachstumsrevolution
Bis ins 18. Jahrhundert lebten die Menschen in Gemeinschaften des Stillstandes. Das seitdem anhaltende Wirtschaftswachstum schuf unbekannte Entwicklungsdynamiken und Wohlstand. Aber das Ende des Wachstums erfordert eine neue nachhaltige Gesellschaft
Bis ins 18. Jahrhundert wuchsen Wirtschaft und Bevölkerung in etwa gleicher Trägheit von durchschnittlich um 0,1 Prozent pro Jahr. Die langsame Bevölkerungszunahme zehrte das Mehrprodukt fast vollständig auf. In Folge dessen blieben die Lebensverhältnisse über ca. 1500 Jahre weitgehend stabil. Es waren Gesellschaften der Stagnation, die immer wieder von schweren Krisen wie Epidemien, Völkerfluchten, Kriegen sowie Klimaveränderungen und Naturkatastrophen, in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte, z.T. Jahrhunderte zurückgeworfen wurden.
Das globale Wachstum (Durchschnittliche Zunahme pro Jahr) |
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Zeitraum | Weltproduktion | Weltbevölkerung | Produktion je Einwohner |
0-1700 | 0,1% | 0,1% | 0,0% |
1700-2012 | 1,6% | 0,8% | 0,8% |
davon | |||
1700-1820 | 0,5% | 0,4% | 0,1% |
1820-1913 | 1,5% | 0,6% | 0,9% |
1913-2012 | 3,0% | 1,4% | 1,6% |
Quelle: Piketty 2014, S. 106. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog) |
Ab dem 18. Jahrhundert begann eine durch die Industrialisierung getriebene wirtschaftliche Dynamik. Globalisierung und aufkommender Kapitalismus - ein Konglomerat aus Kapitalisierung, Spezialisierung, gewinn- bzw. wachstumsorientiertem Wirtschaften, technischem Fortschritt sowie sukzessiver räumlicher Ausdehnung der Wirtschaftsstrukturen - ließen die Produktionskräfte "explodieren". Das durchschnittliche Wachstum der Weltwirtschaft erhöhte sich auf ca. 1,6 Prozent pro Jahr. Da gleichzeitig auch die Bevölkerungsanzahl deutlich zunahm, lag das Wirtschaftswachstum pro Einwohner bei ungefähr der Hälfte von 0,8 Prozent pro Jahr.
Die neue Dynamik führte in den letzten 300 Jahren zu einer mehr als Verzehnfachung der Lebensstandards. Wohlgemerkt, diese Entwicklung vollzog sich parallel zu einem Anwachsen der Weltbevölkerung von geschätzt 600 Millionen auf über 7 Milliarden.1 Nach Jahrtausenden äußerst langsamer Entwicklung eine außerordentliche Beschleunigung.
Die Wirkung kontinuierlichen Wachstums | ||||
Eine jährliche Wachstumsrate von… | entspricht einer Wachstumsrate pro Generation (30 Jahre) von... | bedeutet somit nach 30 Jahren eine Multiplikation von… | nach 100 Jahren eine Muliplikation von… | nach 300 Jahren eine Multiplikation von… |
0,1% | 3% | 1,03 | 1,11 | 1,4 |
0,5% | 16% | 1,16 | 1,65 | 4,5 |
0,8% | 27% | 1,27 | 2,22 | 10,9 |
1,0% | 35% | 1,35 | 2,70 | 18,8 |
1,5% | 56% | 1,56 | 4,43 | 87,1 |
2,0% | 81% | 1,81 | 7,24 | 380,2 |
2,5% | 110% | 2,10 | 11,80 | 1.648,8 |
Quelle: Piketty 2014, S. 109. Darstellung: Kai Kleinwaechter (zeitgedanken.blog) |
Fallbeispiel Frankreich
Bereits im 13. Jahrhundert setzte sich in Frankreich der Zentralstaat und mit ihm die landesweit einheitliche Besteuerung durch. Bis auf die Zeit der französischen Revolution und den anschließenden napoleonischen Kriegen liegen detaillierte französische Steuerdaten vor. Auf ihrer Basis lässt sich die historische Entwicklung der Wirtschaft erfassen. Kein anderer Staat Europas besitzt vergleichbare Datenquellen.
Der bedeutende Ökonom und Wachstumsforscher Angus Maddison und seine Anhänger arbeiteten die historischen Wirtschaftsdaten aller Staaten auf. Die Aussagen ihrer Statistiken sind eindeutig: Fast ein halbes Jahrtausend entwickelte sich die ökonomische Leistungskraft der französischen Gesellschaft kaum weiter. Vom 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts schwankte die Wertschöpfung pro Einwohner zwischen 1100 und 1500 US-Dollar pro Jahr. Das entspricht in etwa dem Produktivitätsniveau des heutigen Mozambique (1.288 US-Dollar).
Mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise nach den napoleonischen Kriegen, begann in Frankreich eine bis in die Gegenwart anhaltende "Ära des Wachstums". Die Wirtschaftskraft je Einwohner nahm von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart um das 25-fache zu. Diese Steigerung der Produktion korrespondiert mit einem Aufwuchs der Bevölkerung von ca. 3,6 auf 67 Millionen.
Einzige Ausnahme der kontinuierlichen Produktionsausdehnung bildete die erste Hälfte des 20. Jahrhundert. Die zwei Weltkriege sowie die Weltwirtschaftskrise verursachten eine mehr als vierzigjährigen Stagnation der Wirtschaft. Interessanterweise blieb in diesen Zeitraum auch die Bevölkerung weitgehend stabil zwischen 39 und 42 Millionen. Erst ab 1947 übertraf Frankreich das Wirtschaftsniveau von vor dem Ersten Weltkrieg. Damit begann auch eine Phase des erneuten Anstiegs der Bevölkerung.
Die obige Analyse der Wachstumsraten ist ein primär quantitativer Ansatz. Er basiert auf der Anzahl bzw. dem Wert der produzierten Güter. Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen finden dabei nur eine ungenügende Berücksichtigung. Bezieht man diese ein, vervielfacht sich die Dynamik.
Die Veränderungen verlaufen dann so schnell, dass sich schon ältere Gegenwartsmenschen die Gesellschaft der eigenen Kindheit - ohne Smartphones und Computer, dafür mit Schreibmaschine und faltbaren Landkarten - kaum mehr vorstellen können.
Durch das anhaltende Wirtschaftswachstum sowie den technologischen Fortschritt änderte sich das Denken in den Gesellschaften völlig. Die Orientierung auf eine jenseitige Erfüllung stirbt aus. Die Verbesserung und Optimierung von Massenprodukten für eine Bevölkerungsmehrheit werden zu zentralen Elementen eines diesseitigen Denkens. Es dominiert eine Sichtweise, die auch zugleich praktische Forderung ist: "Unsere Kindern werden es besser haben." Wobei "besser" neben materiellen immer auch eine politische Dimension hat - mehr Gesundheit, mehr Bildung, mehr Teilhabe usw.
Fallbeispiel Deutschland
In den hochentwickelten Industriestaaten gelangt die historische Phase des quantitativen Wachstums an sein Ende. Stellvertretend dafür steht das deutsche Wirtschaftswachstum. Noch in den 1970er Jahren wuchs die Wirtschaft mit durchschnittlich 3,3 Prozent pro Jahr. Seitdem flacht das Wachstum immer weiter ab. In der gegenwärtigen Dekade gewähren selbst Impulse wie u.a. ein Niedrigzinspolitik, hohe Aushandelsüberschüsse, eine Zunahme von Bevölkerung und Beschäftigung gerade einen Anschluss an das Niveau der 1980er Jahre.
Der "Club of Rome" prägte mit seinen kritischen Studien zu den "Grenzen des Wachtums" und entsprechenden Forderungen - 1972 ("Null-Wachstum"), 1992 ("Minus-Wachstum") - eine ganze Generation von Wissenschaftlern und schuf konzeptionelle Grundlagen für eine Strategie der Nachhaltigkeit. Jorgen Randers u.a. Zukunftsforscher aus diesem Think Tank prognostizieren ein Ende des quantitativen Wachstums in den hochentwickelten Industriestaaten gegen Mitte des 21. Jahrhunderts.2 Folgende Entwicklungen sind dafür wesentlich:
Erstens zeigen sich erstmals in der Geschichte strukturelle Sättigungen der Nachfrage bei Industriegütern und Nahrungsmitteln.3 Bis zum 20. Jahrhunderts eine unbekannte Massenerscheinung. Die Unternehmen können jetzt mehr produzieren als die Menschen finanziell zu kaufen vermögen und - wichtiger noch - nach ihren Bedürfnissen kaufen wollen!
Die Mega-Konsumgesellschaft und ihr Spiegelbild, die Mega-Produktionsgesellschaft, bedürfen zunehmend keiner quantitativen Ausdehnung des Angebotes. Ihr "Wachstum" wird ein mit den traditionellen Indikatoren nicht mehr zu erfassendes, immaterielles sozio-technisches sein. Insbesondere neuartige Besitz- und Produktionsformen wie Sharing, digitale Kommunikationsplattformen sowie 3-D-Drucker unterstützen die materielle Entlastung der Menschen. Gleichzeitig wird eine deutlich geringere Produktionsbasis benötigt.
Auch hierfür steht beispielhaft Deutschland. Der Bedarf an Energie und Rohstoffen geht immer weiter zurück. Ursachen sind eine hochtechnologische Produktion sowie die Umstellung der Bevölkerung auf energiesparende Güter. Der gegenwärtige Primärenergieverbrauch - der gesamte Verbrauch an Energie einschließlich Übertragungs- und Wirkungsverlusten - entspricht inzwischen dem Stand der 1970er Jahre. Ohne den Handelsüberschuss in den energieintensiven Sektoren Kraftfahrzeug- und Maschinenbau sowie Chemie sänke der Energieverbrauch noch weiter. Das Festhalten an Basistechnologien des 19. Jahrhunderts behindert den Durchbruch in eine ökologische Gesellschaft.
Zweitens kommt das Wachstum der Bevölkerung in den Industriestaaten zum Erliegen oder geht sogar in Schrumpfungsprozesse über. Selbst die konservative UN Population Division prognostiziert inzwischen nur noch unter extremen Bedingungen eine Bevölkerungszunahme. Wozu brauchen stagnierende Bevölkerungen eine quantitative Zunahme der (industriellen) Produktion? Zumal, wenn deren Profite immer ungleicher verteilt werden.
Drittens zeigen sich die negativen ökologischen Folgen der gegenwärtigen Produktionsweise. Klimawandel, Artensterben und die Anreicherung von Gift- sowie Plastikstoffen verändern die gesamte Biosphäre. Sie erreichen ein für die Menschheit lebens- und wohlstandsbedrohliches Ausmaß. Mit einem weiteren Jahrhundert klassischen Wachstums wären die ökologischen Folgen nicht mehr tragbar. Oder wie es Professor Hermann Daly ausdrückt:4
Das gegenwärtige Wachstum ist ein unwirtschaftliches; es kostet mehr als es an Grenzertrag einbringt und macht uns ärmer statt reicher. […] Wir haben die wirtschaftliche Grenze für das Wachstum erreicht […] und verstecken diese Tatsache krampfhaft hinter einer falschen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, weil Wachstum unser Götze ist.
Entscheidend sind nicht einzelne dieser Faktoren. Aber in ihrer Interaktion bedeuten sie eine Beendigung des quantitativen Wachstums in den hochentwickelten Ländern. Da der Übergang noch bis Mitte des 21. Jahrhunderts andauern wird, kommt es wahrscheinlich nochmals zu einer Verdopplung der Produktion.
Elend in der 3. Welt
In den heutigen Entwicklungs- und Schwellenländern stellt sich die Situation anders dar. Dort verfügen mindestens 850 Millionen Menschen über keine gesicherte Stromversorgung und mindestens 2,4 Milliarden über keinen Zugang zu einfachsten sanitären Anlagen. Ebenfalls hungern über 800 Millionen Menschen - Tendenz wieder steigend. Weitere Milliarden haben keine gesicherten Unterkünfte, keinen Zugang zur Krankenversorgung usw.
Sollen die Armen der Welt nicht aufgegeben werden, muss es dort bis weit ins 21. Jahrhundert hinein eine Steigerung der Produktion geben. Die Staaten der 3. Welt müssen eigene großindustrielle Strukturen aufbauen. Diese ökologisch-nachhaltig zu gestalten, ist eine der herausragenden globalen Aufgaben dieses Jahrhunderts.
Verantwortung der Führungsstaaten
Staaten des Westens führten die Menschheit in die Moderne. Sie schufen zivilisationsprägende Produktions- und Forschungskapazitäten - steigerten durch Wachstumsgesellschaften das Lebensniveau der Gesamtbevölkerung. Diese Phase extensiven Wachstums geht nach 300 Jahren seinem Ende entgegen.
Damit stehen die post-industriellen Staaten vor einer widersprüchlichen Aufgabe. Einerseits müssen sie sich zu intensiv-technologischen und ökologisch-nachhaltigen Gesellschaften transformieren. Das wird nur gelingen, wenn gleichzeitig ein Sozial- und Bildungsstaat des 21. Jahrhunderts durchgesetzt wird.
Dieser tiefgreifende wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Wandel geht mit einem Bedeutungszuwachs staatlicher als auch gesellschaftlicher Organisationen jenseits des Marktes einher. Der Kapitalismus bleib vorerst erhalten, aber die Gewichtung - Markt vs. Staat/Gesellschaft - wird sich zugunsten letzterem verschieben. Es entsteht eine Form des "intensiv staatsmonopolistischen Kapitalismus"5.
Andererseits müssen die hochentwickelten Staaten die Entwicklungs- und Schwellenländern bei ihrem Fortschritt in die Moderne unterstützen. Dieser gelingt nur über den umfassenden Aufbau landwirtschaftlicher und industrieller Strukturen in der 3. Welt. Vor allem geht es dabei um massiven Technologietransfer, die Schaffung gleichberechtigter Handelsbeziehungen, durch den Aufbau von Infrastruktur sowie industrielle Großinvestitionen. Wesentlich unterstützen kann dabei eine Übertragung von Know-how durch Zirkelmigration.
Versuche, den Sprung in die Moderne durch Kriege zu erzwingen, werden scheitern. Sie zerstören benötigte Ressourcen und bringen reaktionäre Militärs an die Macht. Darüber hinaus führen die Kriege auch in der 1. Welt zu Militarisierung und sozialen Spaltung. Der Weg in eine nachhaltige Gesellschaft kann nur einer des Friedens sein.
Die Aufklärung und Umgestaltung der heutigen Gesellschaft geht voran. Allgemeinverständliche Publikationen des Soziologen Harald Welzer ("Alles könnte anders sein"), des Philosophen David Precht ("Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft") oder des pluralen Ökonomen Niko Paech ("Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie") zeigen Utopien und Dystopien möglicher Entwicklungen auf.
Vielfältige neue (Jugend)Bewegungen - wie "Fridays for Future", "Extinction Rebellion", "Ende Gelände" - fordern radikale Veränderungen. Es entsteht eine neue Gesellschaft. Wie sich diese gestaltet wird auch an der Wahlurne entschieden. Das Rot-Rot-Grüne Spektrum (vs. Schwarz-Grün) bereitet hier am ehesten den Weg in die Moderne.
Quellen
AG Energiebilanzen Auswertungstabellen:
- Zeitreihen bis 1989
- Auswertungstabellen Energieverbrauch
Elsenhans, Hartmut: Kapitalismus global. Aufstieg - Grenzen - Risiken; Stuttgart: W. Kohlhammer 2013.
Randers, Jorgen: 2052. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre; München: oekom 2012.
Schreiber, Wilfried (Hrsg.): Staatsmonopolistischer Kapitalismus; Potsdam: WeltTrends 2016
Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Inlandsproduktberechnung Lange Reihe ab 1970; Fachserie 18, Reihe 1.5 2018.
Kai Kleinwächter arbeitet als selbstständiger Dozent (Themen: Volkswirtschaftslehre, Grundlagen Betriebswirtschaft, Marketing, Unternehmensführung). Er ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Ebenfalls bloggt der Autor auf seiner Homepage: zeitgedanken.blog.