Das Gehirn der Welt: 1912
Seite 4: Weltformat
Ausgangspunkt und interne Klammer der Brücke-Gründer waren Bemühungen um die Vereinheitlichung von Druck-, Papier- und Bildträgerformaten aller Art. Dahinter standen nicht allein die lästigen Erfahrungen, die jeder Herausgeber und Gestalter von Druckerzeugnissen im täglichen Umgang mit Druckern, Papierherstellern und anderen Zulieferern machten musste, sondern vor allem bei Ostwald die Überzeugung, dass die Bereitstellung einheitlicher, letztlich objektivierbarer Grundlagen jeden gedanklichen oder wissenschaftlichen Austausch - heute : Datenverkehr - erleichtern müsste. Der Migrant Ostwald kannte die Probleme einer Informationsbeschaffung an entlegenen Forschungsstätten aus eigener Rigaer Erfahrung allzu gut, um nicht hoffnungsfroh an eine Verbesserung wissenschaftlicher Arbeit durch intensiveren Tauschverkehr zu glauben. Ob es nun die Vereinfachung von Druck und postalischem Versand oder die Festlegung digitaler Programmiersprachen sind, hinter beiden stand und steht die Idee eines weltweit gleichmässigen Zugriffs auf Informationen, unabhängig vom Ort und sozialen Kontext der Benutzer. Wie es schon 1912 heisst: "Die geistige Produktion läßt gegenwärtig an Menge und Wert nichts zu wünschen übrig; es wird vielmehr außerordentlich viel mehr produziert, als von der Menschheit, insbesondere von den Teilen, welche diese Produkte unmittelbar benutzen könnten, tatsächlich assimiliert und zu dauernder Wirkung gebracht werden kann. Ursache dieses Mangels ist eben das Fehlen eines ‘Gehirnes der Menschheit’, das Fehlen eines Zentralorgans, welches diese einzelnen Produktionen zueinander ordnet und in geordneter Weise jedem Bedürftigen zugängig macht." (Wilhelm Ostwald: Das Gehirn der Welt )
Insofern war für Ostwald die Einführung eines geometrisch begründeten "Weltformats" (Weltformate ) metaphorisch dasselbe, was derzeitige Kommissionen zur Festlegung von HTML, Unicode und Datentransferprotokollen umtreibt. Seine Mitstreiter Bührer und Saager hatten ihm als Basis der Brücke pragmatische Überlegungen zur Vereinheitlichung der Druck- und Papierformate präsentiert, die er in ein System brachte. Sein Ausgangspunkt waren die Seitenkanten eines rechteckigen Papiers, die in ihrer Längenrelation untereinander annäherungsweise im Goldenen Schnitt stehen sollten; von der Basis eines Zentimeters ausgehend ergab sich dadurch eine geometrische Reihe von Formaten für alle Arten von Drucksachen. Symptomatisch für Ostwalds naturphilosophischen Ansatz ist dabei ein unbedingtes Vertrauen in objektivierbare Grundlagen der Wahrnehmung; der Goldene Schnitt gehört zu den klassischen Sehnsuchtsmustern der eurozentrisch technischen Intelligenz. Ob er tatsächlich als interkulturelle Grundlage industriellen Zuschnitts taugt, war weder damals ein Thema noch ist es dies heute. 15
Immerhin hatte das Weltformat eine feste Basis im Druckgewerbe und entsprach annähernd jenen Grössen und Flächen, die bereits über dreihundert Jahre im Gebrauch waren. Ostwald konnte von einer geometrischen Fixierung aus auf eine ökonomische Umsetzung blicken, analog zu vielen seiner chemischen Untersuchungen. Und mit der einmaligen Festlegung eines Formatrasters waren Unmengen von Folgeerscheinungen definiert, auch dies für den Pragmatiker kein unbekanntes Verfahren. Folgt man der Darstellung Saagers, so hatte Wilhelm Ostwald bereits früher seine Formate festgelegt, doch als normierende Grundlage wurde es erst durch die Arbeit der Brücke begründet. Mit der Institution Brücke ging allerdings auch das Weltformat unter. Wilhelm Ostwald konnte sich 1923 bei der Festlegung der deutschen Industrienormen für Papier mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen, stimmte jedoch dem auf Flächenrelationen basierenden, bis heute gebräuchlichen DIN-Vorschlag zu. Übernommen wurden seine Vorschläge zu "Sekundäre Weltformate" , die ebenfalls jahrhundertelange Praxis im Druck- und Papiergewerbe gewesen waren und nur auf eine rechnerische Basis gestellt zu werden brauchten. Eine dritte Publikation zu stereometrischen Formaten, ‘Weltformate für Körper’ genannt, ist unter der Brücke-Flagge offensichtlich nicht mehr erschienen.
Für Bührer und Saager folgten aus den Weltformaten zahllose Detaillösungen, die in ihrer naiven Ernsthaftigkeit gelegentlich kurios wirkten. Zunächst variierten sie ihre Ursprungsvorschläge zum ersten Brücke-Buch und nannten sie die "Organisierung des Druckwerks" , wobei sie vor allem ökonomische Gründe anführten. Saager setzte konsequent auf die Finanzierung der Brücke durch Werbung - zu Zeiten, als es ausser Anzeigenacquisiteuren keine Werbeagenturen gab - und äusserte sich zur "Kulturmission der Reklame" . Damit diese auch entsprechend gelänge, versuchte er anschliessend noch die "Künstler und die Brücke" miteinander zu verbinden, wobei er jedoch durchwegs jene Gestalter ansprach, die heute unter den Design-Begriff fallen. Bührer hingegen erarbeitete unter dem Titel "Raumnot und Weltformat" mit dem Architekten Emil Pirchan detaillierte Vorschläge für Interieurs von Wohnungen und Bibliotheken, die in Illustration und Beschreibung jenen euphorischen Beglückungen ähneln, von denen auch das Internet wenigstens teilweise lebt. Ein Konservator der Graphischen Sammlung der Münchner Pinakothek erweiterte diese Vorschläge durch Raumvorstellungen für Sammlungen von Kunstkatalogen und graphischen Blättern unter dem Titel "Kunsthandel und Weltformat" ; in einem weiteren Brücke-Band ohne jeden Zusammenhang mit Weltformat und anderen Brücke-Zielen bejubelte er das Plakat als Kunstform der Zukunft.16
Mehr im Sinne Ostwalds dürfte jener kurze Beitrag Wilhelm Exners, Präsident des Wiener Gewerbeförderungsamts, gewesen sein, der die Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften zur Übernahme des Weltformates animieren sollte. Und in der Brücken-Zeitung , die 1913 ein halbes Jahr lang erschien, wurden sämtliche Absichtserklärungen aus Industrie, Handel und Verwaltung nachgedruckt, in denen die baldige Einführung des Weltformats auch nur ansatzweise aufklang. Lange Listen von Zeitschriften, Büchern und aller Art Publikationen bis hinunter zu Werbemarkenprogrammen, die sich eines der Weltformate bedienten, wurden veröffentlicht, und mehr als die Hälfte aller Anzeigen in jedem Heft verwiesen auf Produkte im oder für das Weltformat. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die grosse Euphorie als kleine Schimäre; kaum mehr als ein winziger Bruchteil deutscher, österreichischer oder deutschschweizer Druckwerke kam in diesem Format daher.