Das Grundmuster des Verhaltens der Zivilbevölkerung war Passivität
Der englische Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw und die Frage, warum die Maschinerie des Dritten Reiches bis zur totalen Auflösung weiter funktionieren konnte
Ian Kershaw war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2008 Professor für moderne Zeitgeschichte an der Universität Sheffield. Der mittlerweile zum Ritter geschlagene Historiker hat umfangreiche Studien zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus veröffentlicht. Als sein Hauptwerk gilt die zweibändige Monographie über Adolf Hitler. In einer Studie über Lord Londonderry beleuchtet Kershaw delikate Verbindungen von Teilen der englischen Aristokratie zur Nazi-Elite. Sein neuestes Buch "Das Ende" soll nun Kershaws letztes Werk zum Thema Nationalsozialismus sein. Telepolis sprach mit ihm.
Mister Kershaw, Sie gehen in Ihrem Buch "Das Ende" der Frage nach, warum das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg bis zur kompletten Selbstzerstörung mit vollem Einsatz weiter gekämpft hat. Ihre Untersuchung beginnt mit dem gescheiterten Putschversuch vom 20. Juli 1944 und endet zwei Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945. Warum ging der Krieg nach Stauffenbergs Attentat noch zehn Monate in voller Härte weiter?
Ian Kershaw: So merkwürdig es klingt: Das misslungene Attentat führte zu einer Stärkung des Regimes. Vier Männer, das Quadrumvirat, gewannen in dieser letzten Phase enorm an Bedeutung. Zum einen nahm Hitler die Ereignisse zum Anlass, SS-Chef Himmler zum Oberbefehlshaber des so genannten Ersatzheeres zu machen. Mit diesem Schlag hat Hitler in die Struktur der Wehrmacht eingegriffen. Himmler hatte somit neue Vollmachten bekommen. Aus dem Ersatzheer heraus wurde nämlich das gescheiterte Attentat geplant. Himmler hat das Ersatzheer sofort neutralisiert.
Der Zweite, der davon profitierte, war Joseph Goebbels, der Reichspropagandaminister. Der hatte jahrelang auf neue Vollmachten gepocht. Ohne Erfolg. Er wollte die Autorität haben über die Mobilisierung zum Totalen Krieg. Gleich nach dem misslungenen Attentat erteilte Hitler Goebbels die gewünschten Vollmachten. Goebbels rekrutierte in den folgenden Monaten eine Million neue Soldaten für die Wehrmacht. Diese zusätzlichen Soldaten waren absolut unentbehrlich für die Wehrmacht.
Als Dritter profitierte Reichskanzleichef Martin Bormann von den Ereignissen. Bormann konnte seine Befugnisse über die Partei erweitern. Auch die NSDAP bekam in dieser letzten Phase ganz neue Machtbefugnisse. Nämlich die Kontrolle über alles, was in diesem Krieg zum zivilen Bereich gehörte. Unter Bormann bestimmten die Gauleiter als neu ernannte Reichsverteidigungskommissare über alle Bereiche des Zivillebens. Zum Beispiel über Einlass zu den Luftschutzbunkern, Aufräumungsarbeiten nach Luftangriffen, Evakuierungsmaßnahmen und Ähnliches.
Die Partei erfuhr hiermit eine Neubelebung. Schließlich bekam Bormann zusammen mit Himmler die Kontrolle über den neu geschaffenen Volkssturm. Der Volkssturm war militärisch wertlos, hat aber als weiterer Kontrollmechanismus über die männliche Bevölkerung fungiert.
Nicht so stark profitiert hat von dem Putsch Albert Speer, der allerdings für den Kriegsverlauf unentbehrlich war. Speer, diese rätselhafte, zwielichtige Gestalt, war vielleicht am allerwichtigsten in dieser letzten Phase. Bei allen wachsenden Schwierigkeiten hat er dafür gesorgt, dass die Wehrmacht weiterhin Munition und Waffen bekam.
Speer hat alles getan, um den Krieg zu verlängern
Sie betonen in Ihrem Buch öfter den zwielichtigen, rätselhaften Charakter von Albert Speer. Was meinen Sie damit genau?
Ian Kershaw: Speer versuchte in seinen Erinnerungen immer wieder den Eindruck zu erwecken, er sei im Krieg ein Edel-Nazi gewesen, der einfach in falsche Gesellschaft geraten sei. Speer behauptete, er habe schon im Sommer 1944 den Krieg als verloren angesehen. Betrachtet man seine Taten in dem betreffenden Zeitraum, dann arbeitete Speer wie ein Berserker, mit hoher Intelligenz und organisatorischer Perfektion, ganz und gar nicht so, als hätte er den Krieg für verloren angesehen.
Und er hat alles getan, um den Krieg zu verlängern. Erst im März 1945 hat Speer eingesehen, dass der Krieg rettungslos verloren ist. Vorher hatte er mit Sicherheit zumindest auf einen Verhandlungsfrieden hingearbeitet.
Die Wehrmacht stand ihrerseits unter besonderem Bewährungsdruck. Da ein großer Teil der Hitler-Attentäter aus dem Adel stammte, nutzten Hitler und seine Entourage bestehende adelsfeindliche Ressentiments in den unteren Rängen der Wehrmacht, um bürgerliche, durch die Nazizeit sozialisierte Offiziere nach oben zu befördern …
Ian Kershaw: Die Nazifizierung der Wehrmacht wurde durch diese antiadligen Ressentiments enorm erleichtert. Es kam zu beträchtlichen personellen Veränderungen im Offizierskorps. Es gab zu jener Zeit etwa 200.000 Offiziere in der Wehrmacht. Und nun rückten viele junge Offiziere nach, die die NS-Sozialisation verinnerlicht hatten.
Nun wurde "Heil Hitler!" als Gruß in der Wehrmacht eingeführt, die Aktivitäten von so genannten NS-Führungsoffizieren wurden ausgeweitet. Die führenden Posten wurden von Regime-loyalen Personen eingenommen. Es herrschte ein bis dahin unbekannter Konformitätsdruck in den Streitkräften.
Nazifizierung der Gesellschaft
Wie reagierte die Bevölkerung auf das Stauffenberg-Attentat?
Ian Kershaw: Zunächst war die Reaktion auf das Hitler-Attentat: Bestürzung. Schock. Die Frage: was kommt noch? Natürlich Erleichterung, dass "der Führer" überlebt hatte. Es kam zu einer kurzfristigen Wiederbelebung des Ansehens von Hitler. Bis zum Herbst 1944 befand sich allerdings diese Popularität schon wieder in freiem Fall.
Wie haben denn die Wirtschaftsführer im Krieg auf die zunehmende Zerstörung der Infrastruktur reagiert?
Ian Kershaw: Die sahen natürlich ganz klar, dass die Luftabwehr immer schwächer wurde. Hauptsache für sie war, die wirtschaftliche Infrastruktur für die Nachkriegszeit so weit wie möglich unzerstört aufrechtzuerhalten. Sie schauten über den Zeitpunkt hinaus, wo Hitler nicht mehr da sein würde.
Schon im Herbst 1944 war Albert Speer in diesem Sinne dabei, lediglich eine partielle Lähmung der Betriebe in den potenziell okkupierten Gebieten voran zu treiben, um Hitlers so genannten "Nerobefehl", also: die Infrastruktur zu zerstören, bevor sie in die Hände des Feindes fielen, zu unterlaufen. Speer argumentierte gegenüber Hitler mit der illusorischen Vorstellung, man werde die verlorenen Gebiete wieder zurück erobern. Man sollte also nicht zerstören, sondern nur lähmen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie nach dem Stauffenberg-Attentat die ganze Gesellschaft noch radikaler als je zuvor von nationalsozialistischer Ideologie durchdrungen wird, und das meistens sehr gewaltsam. Anders als im Ersten Weltkrieg, wo versucht wurde, die Bevölkerung durch demokratische Zugeständnisse für die Verlängerung des Krieges zu motivieren. Musste diese Nazifizierung der Gesellschaft nicht zu einer beschleunigten Polarisierung und Desintegration führen?
Ian Kershaw: Aus genau dieser Erfahrung des Ersten Weltkriegs heraus hatten die Nazis Vorsorge getroffen. Das Volk dürfte auf keinen Fall noch einmal eine solche Artikulationsmöglichkeit besitzen. Bei Hitler und seinen Mitstreitern gab es dieses "November-Syndrom". Es war geradezu ein Leitmotiv, dass sich 1918 nicht wiederholen dürfe. Es gab daher erweiterte Kontrollmechanismen auf der ganzen Linie.
Die Bevölkerung wurde drangsaliert, militarisiert, mobilisiert wie nie zuvor. Freiräume existierten einfach nicht, um überhaupt irgendetwas zu organisieren. Ganz im Gegensatz zu 1918: Damals gab es ein Parlament, mehrere Parteien, sogar eine Art von Friedensbewegung. Es gab die Möglichkeit, Streiks zu organisieren. 1918 standen keine feindlichen Soldaten auf deutschen Boden, erst recht keine Russen. Es gab keine Monopolpartei, keine Gestapo. Eine weitere Lehre aus 1918: Die Bevölkerung wurde 1944 und 1945 bis zum Schluss mit Lebensmitteln versorgt.
Dass sich Anfang 1945 noch Leute für ein Studium in Berlin bewerben, ist schon ein merkwürdiger Gedanke.
In der Endphase des Zweiten Weltkrieges hatte die Bürokratie von Partei und Staat bis zuletzt Arbeit und Brot. Ein erstaunliches Phänomen: Die Bürokratie funktionierte noch reibungslos, auch als es nichts mehr zu tun gab …
Ian Kershaw: Man braucht offensichtlich eine gewisse Pseudo-Normalität in chaotischen, krisenhaften Zeiten. Man hat den Eindruck, die Bürokraten haben den Papierstoß von einer Seite des Schreibtisches zur anderen Seite geschoben und zurück. Es hätte andererseits ja auch für sie persönlich schreckliche Konsequenzen gehabt, wenn sie dann nicht zur Arbeit erschienen wären.
Das Regime hat bewusst diese Schein-Normalität aufrechterhalten. So liefen viele Kinos noch bis zum Schluss. Selbst Fußball wurde in München eine Woche vor Hitlers Tod gespielt. Und die Leute haben bis zuletzt ihre Gehälter bekommen.
Der Finanzminister von Krosigk wies, wie Sie berichten, Anfang 1945 in einem Memorandum darauf hin, dass die Wirtschaft des Reiches durch Inflation gefährdet sei …
Ian Kershaw: Was aber in der Hitler-Entourage niemanden mehr interessierte. Und von Krosigk legte im März 1945, also zwei Monate vor dem Zusammenbruch, Pläne für eine Steuerreform vor. Das ist ganz erstaunlich. Es wurden auch noch mit großem Eifer Anträge für Studienstipendien beantragt und bewilligt. Bis zum Schluss. Dass sich Anfang 1945 noch Leute für ein Studium in Berlin bewerben, ist schon ein merkwürdiger Gedanke.
Ihre grundlegende These ist ja, dass sich im Nazisystem äußerst unterschiedliche, zum Teil verfeindete Kräfte unter dem charismatischen Schirm von Hitler als absoluten Alleinherrscher und kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengefunden hatten. Und, so sagen Sie, erst als Hitler tot war, konnten seine Untergebenen überhaupt an Kapitulation denken. Jedoch hatte Himmler schon vor Hitlers Tod Fühler zu den Westalliierten ausgestreckt, und SS-Führer Karl Wolff handelte schon im März eine Teilkapitulation mit dem US-Geheimdienstchef Allen Dulles aus. Diese wurde bereits einen Tag vor Hitlers Tod unterzeichnet.
Ian Kershaw: Jedoch behielt Hitler bis zum Schluss in seinem Kreis die Autorität. Man konnte zwar an Kapitulation denken, aber nicht entsprechend handeln. Feldmarschall Kesselring, Oberbefehlshaber West, hatte sich zum Beispiel geweigert, an einer Kapitulation in Italien mitzuwirken, solange Hitler noch lebte.
Die Kapitulation dort wurde in der Tat erst nach Hitlers Tod wirksam. Hitler hat Himmler aus der Partei ausgestoßen, als er von dessen Versuch erfuhr, Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen. Innerhalb seiner Entourage war nicht an seiner Autorität zu rütteln.
Auch führende SS-Funktionäre wie Kaltenbrunner versuchten; ihre eigene Haut zu retten für die Zeit nach dem Krieg. Und diese Leute waren miteinander verfeindet und hatten große Angst voreinander. So konnte nichts Kollektives geplant werden. Hitler war eine absolute Blockade, irgendeine Teilkapitulation zu erreichen. Erst als Hitler tot war, wagte Admiral Dönitz überhaupt erst, an eine Teilkapitulation zu denken. Bis dahin war Dönitz Feuer und Flamme für das Durchhalten.
Fatalismus
Können Sie die Phasen der Stimmungen in der Bevölkerung in den letzten zehn Kriegsmonaten kurz beschreiben?
Ian Kershaw: Nach der Erleichterung über das Scheitern des Stauffenberg-Putsches kam es bereits im September 1944 zu einer Ernüchterung, als die deutsche Front im Westen zusammenbrach. Bis dahin hatte man noch auf die Wunderwaffen gehofft. Aber schon die Rakete V1 war eine Enttäuschung, und das war auch mit V2 nicht anders.
Man gab die Hoffnung zwar nicht gänzlich auf, aber im Herbst 1944 flaute dann die Hoffnung auf die Wunderwaffen ziemlich rasch ab. Und dann hat im Oktober der zeitweilige Durchbruch der Roten Armee im Osten tiefe Spuren hinterlassen. Als die Rote Armee kurzfristig bereits in Ostpreußen eingedrungen war, und im Ort Nemmersdorf eine Spur des Schreckens hinterlassen hatte, versuchte Goebbels diese Horrorszenarien für seine Propaganda auszunutzen.
Das war aber nur ein Teilerfolg für Goebbels, denn zumindest im Südwesten Deutschlands sagten die Leute: was sind diese paar Gräueltaten gegen das, was unsere Leute im Osten begangen haben?
Im Dezember 1944 kommt es dann zur deutschen Ardennenoffensive. Da wurde die Hoffnung sehr schnell wieder erweckt: jetzt packen wir es! Diese Hoffnung zerschlug sich nach spätestens zwei Wochen wieder. Nach dem Durchbruch der Roten Armee ins Deutsche Reich in Januar 1945 war auch die letzte Hoffnung zerstoben. Flüchtlinge kamen nun massenhaft nach Westen und brachten ihre schauderhaften Erzählungen mit. Damals war die Stimmung der Bevölkerung bestimmt durch Angst, Furcht, Besorgnis. Fatalismus könnte man fast sagen. Es war keine rebellische Stimmung.
Die Verluste in jenen Monaten sind heute kaum noch vorstellbar
Sie berichten von einer Atomisierung der Bevölkerung …
Ian Kershaw: Man sieht in diesem Stadium relativ wenig von einer Volksgemeinschaft. Selbst die Familien waren zerrüttet. Frauen und Kinder waren oft auf dem Land untergebracht als Schutz vor den Bombardierungen in den Städten.
Dazu riesige Ängste über die Männer an der Front. Eine Dislozierung der Gesellschaft sondergleichen, die dann zu dieser Atomisierung führte. Die Verluste in jenen Monaten sind heute kaum noch vorstellbar. Alleine die Wehrmacht hat pro Monat etwa 350.000 Mann verloren. Die Hälfte aller Verluste fanden in diesen letzten zehn Monaten des Krieges statt.
Das führte dann ja auch zu einem Vertrauensverlust in die Fähigkeit der Führung. Wie reagierte die Führung?
Ian Kershaw: Durch zunehmenden Terror gegen die eigene Zivilbevölkerung. Der Konsens sank, der Terror stieg an. Das war natürlich von vornherein ein terroristisches Regime, keine Frage. Aber der Terrorismus richtete sich in den Dreißiger Jahren mehr oder weniger gegen die vermeintlichen Staats- oder Volksfeinde. Jetzt jedoch kam der Terror über die Mehrheitsbevölkerung selber. Die eigentlichen Opfer waren natürlich nach wie vor die verfolgten Minderheiten.
Hier gelangen wir an ein Paradoxon: Hitler und seine Mitstreiter waren ja angetreten, um den "deutschen Volkskörper" von "fremdrassischen Elementen" zu reinigen. Und nun befanden sich mitten im Reich, schätzungsweise sieben bis elf Millionen "Fremdarbeiter" und Zwangsarbeiter, Ausländer, die im Zivilleben Deutschlands unverzichtbare Arbeiten ausführten. Sie beschreiben, wie diese Menschen in der Schlussphase als potenzielle Aufrührer wahrgenommen wurden …
Ian Kershaw: Diese Ängste waren weit verbreitet. Und das Regime hat sein Bestes getan, um diese Ängste nach Kräften zu schüren.
Komplizenschaft
Gab es gar keine Möglichkeiten zu einem organisierten Widerstand? Sie erwähnen nicht die antinazistischen Jugendkulturen wie Edelweißpiraten, Leipziger Meute, Swingheinis und ähnliche Gruppierungen.
Ian Kershaw: Die Jugendkulturen spielten in dieser Phase keine bedeutende Rolle. Es gab in Köln im Spätherbst 1944 Unruhen, hier waren auch Edelweißpiraten beteiligt. Sie haben dann das Gestapo-Hauptquartier in Köln unter Beschuss genommen. Diese Subkulturen waren in früheren Jahren präsent, jetzt aber eigentlich nicht mehr.
Es gab auch in Oberbayern Versuche zu Aufständen. In München gab es einen Aufstand am 28. April 1945. Das war natürlich tapfer, aber irgendwie nur noch selbstmörderisch. Angesichts des extremen Terrors gegen die Bevölkerung war es einfach nur rational, sich zurückzuhalten und auf das Ende der Kampfhandlungen zu warten. Die organisatorischen Möglichkeiten waren äußerst gering.
Mich hat in diesem Zusammenhang irritiert, dass Sie die deutschen Zivilisten, die Zeugen der so genannten Todesmärsche, wo KZ-Häftlinge von zusammen gewürfelten bewaffneten Verbänden von einem KZ ins nächste geführt wurden, als "Komplizen" der Bewacher bezeichnet haben. Die Bewacher der Todesmärsche anzugreifen, hätte ja auch nur Selbstmord bedeutet?
Ian Kershaw: Ich denke, es handelt sich um eine Art von Komplizenschaft, wenn eine ganze Gemeinde Zeuge solcher Todesmärsche wird und nichts unternimmt. Das geht über Passivität hinaus. Die Deutschen haben in ihren Erinnerungen immer geschrieben: Wir haben den Häftlingen geholfen.
Die überlebenden Häftlinge dagegen haben immer gesagt: Wir sind nur auf Feindseligkeit seitens der deutschen Zivilbevölkerung gestoßen. Ich habe mich für die Mitte entschieden. Ich habe beide Seiten zitiert. Daniel Blatman, der das beste Buch über die Todesmärsche geschrieben hat 1, sagt, die Zivilbevölkerung unterstützte die Machthaber. Ich gehe nicht so weit. Das Grundmuster des Verhaltens der Zivilbevölkerung war Passivität.
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