Das Guantanamo-Virus
Ein Artikel von Newsweek entfachte anti-amerikanische Proteste in der muslimischen Welt und politischen Druck auf das Magazin
Einen Mann, eine Frau und eine Pistole. Mehr bräuchte man nicht, um einen spannenden Film zu machen, sagte einst Jean-Luc Godard, der legendäre französische Regisseur der "Nouvelle Vague". Für ein großes politisches Schlamassel-Drama in der echten Welt braucht man im 21.Jahrhundert: Amerikaner, Moslems und eine Nachricht aus Guantanamo Bay. Zwischenergebnis bislang: 17 Tote und über Hundert Verletzte. Und noch ist der Schlussvorhang nicht gefallen.
Es war nicht gerade der exemplarische leise Schlag eines Schmetterlingsflügels, der das Chaos auslöste, aber auch kein journalistischer Reißer, keine Pistolengeschichte auf der Titelseite, kein laut aufgemachter Scoop. Nein, in der Newsweek-Ausgabe vom 9.Mai war unter der Rubrik "Periscope" ein kurzer Bericht der beiden Reporter Michael Isikoff und John Barry zu lesen, der sich mit neueren Untersuchungen zum Gefangenen-Missbrauch bei Verhören in Guantanamo Bay (vgl. Die systematisch betriebene Folter) befasste.
Isikoff und Barry waren Vorwürfen auf der Spur, die in internen FBI-Mails zu lesen waren, die im letzten Jahr öffentlich wurden und von bislang unbekannten Verhörpraktiken in Guantanamo berichteten: Von ungeheuerlichen sexuellen Erniedrigungen soll darin die Rede sein und davon, dass man, um Verdächtige "durcheinander zu bringen", den Koran in eine Toilette geworfen und hinuntergespült hätte.
Eine hochrangige, aber anonyme Quelle mit Zugang zur Untersuchungskommission wurde von Isikoff auf den Wahrheitsgehalt dieser Vorfälle hin befragt. Der Mann gab an, es sei zu erwarten, dass die Vorfälle im nächsten Bericht des U.S. Southern Command in Miami (zuständig für Guantanamo) auftauchen würden. Ein deutlicher Hinweis dafür, dass die Vorwürfe von obersten Stellen ernst genommen wurden und vieles dafür spricht, dass sie so geschehen sind. Nun gibt es viele Meldungen über Gefangenenmissbrauch in Guantanamo; man würde täglich fündig, wenn man danach suchte. Große Publikumsaufmerksamkeit finden solche Meldungen aber eigentlich kaum mehr, der Horror stumpft ab. In diesem Fall aber wuchs sich die Meldung zu einem PR-Super-GAU für die USA aus.
Die Lawine, so Newsweek in einer aktuellen Bestandsaufnahme des Skandals, brach am 6. Mai in Pakistan los. Dort hielt Imran Khan, der seine glorreiche Vergangenheit als weltbester Cricketspieler, sein Charisma und seine Popularität derzeit in politische Erfolge gegen den pakistanischen Präsidenten Muscharraf umzumünzen versucht, eine Pressekonferenz, in der er aus dem eben genannten Newsweek-Bericht vorlas. Die Amerikaner würden bei ihren Verhören Koran-Ausgaben auf Toilettenschüsseln platzieren, einmal habe man sogar einen Koran die Toilette hinuntergespült, verkündete Khan den entrüsteten Zuhörern mit dem frischen Newsweek-Bericht in der Hand: "Das also machen die USA. Sie entheiligen den Koran!", wird Imran Khan zitiert.
Khans Bemerkungen wurden wie andere entrüstete Kommentare von muslimischen Geistlichen und pakistanischen Regierungsvertretern über Radio, das auch im benachbarten Afghanistan gehört wird, weiter verbreitet, und dann folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag: Unruhen im afghanischen Dschalalabad am Dienstag und Mittwoch letzter Woche, dabei wurde das pakistanische Konsulat angegriffen und UN-Gebäude attackiert. Am Dienstag protestierten 2000 Studenten gegen die USA, am Mittwoch sind es bereits 5.000 bis 10.000. Die Polizei kann den Aufruhr nicht kontrollieren - mindestens vier Tote meldet der Guardian am Donnerstag. Das ist erst der Anfang.
Am Donnerstag protestieren mehrere Hundert in verschiedenen pakistanischen Städten, über 1000 in der Grenzstadt Quetta, darunter viele Studenten aus religiösen Schulen, einige Hundert in Lahore und in Peschawar. Am 13.Mai berichtet die New York Times, dass sich die Demonstrationen in Afghanistan auf zehn der 34 Provinzen ausgedehnt haben. Am selben Tag wird auch von Hunderten von Demonstranten in Dschakarta, Indonesien, berichtet. Am Samstag verzeichnet man bereits 16 Afghanen, die bei Demonstrationen getötet wurden. Auch im Gazastreifen demonstriert man gegen die Entehrung des heiligen Buches. Am Sonntag haben sich jemenitische Studenten den Protesten angeschlossen. Erwartungsgemäß dann die Reaktionen von namhaften muslimischen Geistlichen, die mit dem Dschihad drohen.
Während sich amerikanische Militärs noch Gedanken machten, welche Kräfte hinter der Eskalation der Demonstrationen in Afghanistan stecken könnten, blieb die amerikanische Regierung gegenüber den Vorwürfen in der letzten Woche bemerkenswert ruhig; nur aus Militärkreisen gab es das übliche Dementi, wonach die Koran-Story nicht wahr sei. General Richard Myers ließ verlauten, dass keine der Anschuldigungen bislang bewiesen sei.
Am Wochenende ging das Pentagon dann in die Offensive: Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bezeichnete den Newsweek-Bericht als "demonstrably false". Schon am Freitagabend hatte der Pentagonsprecher DiRita bei Newsweek angerufen, um sich zu beschweren, die mit der Untersuchung beauftragten Männer hätten keinen Beweis für die Entehrung des Korans gefunden. Das Magazin veröffentlicht eine Entschuldigung:
We regret that we got any part of our story wrong, and extend our sympathies to victims of the violence and to the U.S. soldiers caught in its midst.
So der Chefredakteur Mark Whitaker in einem Editorial. Doch bei genauem Lesen der beigefügten Hintergrundgeschichte zum Skandal zeigt sich, dass die Journalisten entgegen der Vorwürfe aus dem Pentagon ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen sind, nur die anonyme Quelle zeigte sich nicht mehr sicher - allerdings nicht bezüglich der Anschuldigungen der "Koran-Schändung", sondern ob diese in dem erwarteten SouthCom-Bericht aufgeführt seien:
The senior government official, who said that he clearly recalled reading investigative reports about mishandling the Qur'an, including a toilet incident. But the official, still speaking anonymously, could no longer be sure that these concerns had surfaced in the SouthCom report.
Für Kritiker der amerikanischen Regierung ist eindeutig, dass das Pentagon Druck auf Newsweek ausübt, um von großen Problemen in Afghanistan und anderen muslimischen Ländern abzulenken. Zum einen listet DailyKos eine Reihe von Berichten auf, die schon sehr viel früher über Verhörmethoden, in denen der Koran entheiligt wurde, informiert haben, u.a. auch ein Human Watch Report. Zum anderen weist ein Bericht der Asia Times, der sich letzte Woche mit den ungewöhnlich heftigen Unruhen in Afghanistan befasste, darauf hin, dass eine islamistische Gruppe namens Hisbut Tehrir sich die Aufregung über den Koran-Missbrauch zunutze machte, um mit gut organisierten Demonstrationen deutlich zu machen, wer in Afghanistan die Nachfolge der Taliban und Al-Qaida angetreten hat.
Die allgemeine Entschuldigung von Newsweek aber reicht dem Weißen Haus nicht, das dadurch - und vermutlich unerwartet - in schwere Nöte geraten ist. Scott McClellan, der Sprecher des Weißen Hauses, machte denn auch Newsweek verantwortlich, Guantanamo selbst, der primäre Stein Anstoßes, soll aber natürlich keine Rolle spielen:
A retraction is a good first step. This allegation was unsubstantiated and it was contrary to everything that we value and all that our military works to uphold. We encourage Newsweek to now work diligently to help undo what damage can be undone. People lost their lives. the image of the United States abroad has been damaged. It will take work to undo what can be undone.
Tatsächlich scheint man in der muslimischen Welt von dem Rückzieher nicht sonderlich überzeugt zu sein, zumal das Image der USA nicht erst durch diesen vergleichsweisen harmlosen Vorfall beschädigt wurde.