Das Kohlhaas-Syndrom: Wenn "Waffenstillstand" zum Bäh-Wort wird
Zum intellektuellen Betriebssystem des linken Bellizismus – und was die Kleist-Novelle vom bestohlenen Gerechtigkeitsfanatiker damit zu tun hat.
Eine bemerkenswerte Begleiterscheinung des Ukraine-Krieges ist das Einschwenken von Teilen der gesellschaftlichen Linken und selbst einiger Strömungen der Friedensbewegung auf die Befürwortung militärischer Unterstützung für die Kriegsführung der Ukraine sowie die Ablehnung eines Waffenstillstands und von Verhandlungen zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Stattdessen befürworten sie die Fortführung des Krieges bis zur militärischen Absicherung einer starken Verhandlungsposition Kiews, manche sogar bis zur Rückeroberung allen ukrainischen Territoriums von 1992 – also einschließlich der Krim.
Begründet wird dies mit Argumenten wie "Der Angreifer darf nicht belohnt werden" oder "Das Täter-Opfer-Verhältnis darf nicht umgekehrt werden". Dagegen würden sich alle, die für Verhandlungen plädieren "bestenfalls lächerlich", machen und "im schlimmsten Fall helfen sie der falschen Seite".1
Oder sie frönen einer "linksreaktionäre(n) 'Friedensliebe' die letztlich in der Kapitulation vor der russischen Expansionspolitik mündet", wie der – demnächst ehemalige – Berliner Kultursenator, Lederer, meinte (taz 23.6.2022).
Wir lassen einmal beiseite, ob Leute wie der Generalstabsschef der USA, Mark Milley, sich lächerlich machen, wenn sie schon im November vergangenen Jahres Verhandlungen empfohlen haben.2
Ebenfalls beiseite lassen wir triviale Aspekte, die es in solchen Fällen immer gibt – Anpassung an den medialen Konformitätsdruck, der Wunsch wiedergewählt zu werden, oder uninformierte Naivität gegenüber Risiken einer militärischen Eskalation mit Kontrollverlust – und konzentrieren uns auf das Motiv, das unbedingt Respekt verdient, weil es seinen Ursprung in einem emanzipatorischen Impuls hat: die Parteinahme für Gerechtigkeit, Völkerrecht und die Ablehnung militärischer Gewalt.
Denn da der russische Einmarsch nun tatsächlich eine neue Qualität militärischer Gewaltanwendung und ein gravierender Bruch des Völkerrechts darstellt, ist seine Ablehnung aus emanzipatorischer Perspektive moralisch und rechtlich völlig konsequent.
Gerechtigkeit – auch, wenn die Welt untergeht?
Allerdings stellt sich nach mehr als einem Jahr Krieg die Frage, ob moralisch und rechtlich daraus immer noch die Fortführung des Krieges abgeleitet werden kann. Denn inzwischen hat der Krieg einen enormen Preis an Menschenleben, Zerstörung, ökonomischen und politischen Kollateralschäden in der Ukraine und weltweit gefordert.
Und es hat ein Gestaltwandel des Krieges stattgefunden: er ist über den bilateralen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hinaus auch zu einem Stellvertreter- und Weltordnungskrieg zwischen dem Westen und Russland geworden. Das modifiziert auch die moralischen und völkerrechtlichen Koordinaten – die politischen erst recht.
Man kann die Begründung für die Fortsetzung des Krieges daher nicht mehr auf den russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 reduzieren und ihn quasi als singuläres Ereignis verabsolutieren, das monokausal alles Weitere determiniert. Fiat iustitia et pereat mundus, so die passende Maxime für eine solche Haltung: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.3
In sehr eindringlicher Weise hat Heinrich von Kleist in seiner Novelle Michael Kohlhaas die Anatomie des Problems dargestellt.4
Dem Pferdehändler Kohlhaas werden auf dem Weg zur Leipziger Messe von einem arroganten Junker willkürlich zwei Pferde weggenommen. Seine gerichtliche Klage wird erst lange verschleppt und dann abgewiesen.
Auch weitere Versuche, zu seinem Recht zu kommen, scheitern. Er entwickelt sich dadurch zu einem regelrechten Fanatiker, ruiniert seine Familie und beginnt mit einer Bande einen Rachefeldzug mit Mord und Brandschatzung. Die Novelle endet damit, dass er schließlich doch noch seine zwei Pferde zurückbekommt, gleichzeitig aber für seine Mordbrennerei zum Tode verurteilt wird.
Die Botschaft ist klar: Die anfangs legitime Verfolgung eines moralisch und juristisch völlig legitimen Anspruchs kann unter bestimmten Umständen in Unmoral und Unrecht umkippen. Für den Ukraine-Krieg heißt das, der gute Zweck, dem Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen, heiligt keineswegs alle Mittel.
Der Preis für die Erreichung des Ziels muss moralisch und rechtlich vertretbar sein. Das ist eine ähnliche Logik wie beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im modernen Rechtsstaat: die Polizei darf nicht auf einen Ladendieb schießen, auch wenn der entwischt.
Wem das alles zu weit hergeholt scheint, der sei daran erinnert, dass die Münchener Sicherheitskonferenz in ihrem Security Report 2023 eine Umfrage veröffentlicht hat, wonach 85 Prozent der Ukrainer selbst bei einem Rückzug Russlands auf die Linien vor dem 24. Februar 2022 nicht zu einem Waffenstillstand bereit wären. 89 Prozent würden sogar nach einem russischen Atomschlag weiterkämpfen wollen.5
Die Zahlen dürften maßlos übertrieben sein, denn die Ukraine bleibt auch im Krieg eine Klassengesellschaft, in der die öffentliche Meinung herrschaftsförmig geprägt wird. Dennoch sind sie Indiz dafür, dass ein fanatischer Heroismus das Land im Griff hat.
Das Friedensgebot der UN-Charta
Auch völkerrechtlich modifiziert nach über einem Jahr Krieg der Zeitfaktor die Situation. Zwar ist richtig, dass die UN-Charta Angriffskriege verbietet. Aber wenn ein Krieg dennoch ausgebrochen ist, gebietet sie:
Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
Der ehem. UN-Diplomat i.R., Michael von der Schulenburg, bringt es treffend auf den Punkt6:
Die Verpflichtung zu friedlichen Lösungen von Konflikten besteht nicht nur, um Kriegen vorzubeugen, sondern auch, um Wege aus Kriegen herauszufinden.
Dementsprechend fordert die Resolution der UN-Vollversammlung ES 11/1 vom 2. März 2022, in der 141 der 191 UN-Mitglieder "auf das Schärfste die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine" verurteilen, zugleich "die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel."
Außerdem verlangt die Vollversammlung "sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Durchführung hinzuwirken."
Mit dem Verweis auf das Normandieformat werden neben den unmittelbaren Konfliktparteien Russland und Ukraine auch gezielt Frankreich und Deutschland angesprochen. Doch scheinen jene, die dort so gerne von der regelbasierten Weltordnung reden, damit nur solche Regeln zu meinen, die ihnen in den Kram passen.
Deshalb ignorieren sie auch die erneute Aufforderung der Weltgemeinschaft zu Verhandlungen in der Resolution der UN-Vollversammlung vom Februar 2023, die dazu aufruft, diplomatische Anstrengungen für die friedliche Beendigung des Krieges "zu verdoppeln".
Die Minsker Vereinbarung taucht in der neuen Erklärung allerdings nicht mehr auf. Auch in der Uno hat man wohl zur Kenntnis nehmen müssen, dass Angela Merkel und François Hollande, die seinerzeit das Abkommen unterzeichnet hatten, inzwischen offen erklären, die Verhandlungen seien darauf ausgelegt gewesen, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu schinden.
Wörtlich sagte Merkel der Wochenzeitung Die Zeit:
Das Minsker Abkommen 2014 war ein Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.
Angela Merkel
Auch gegenüber dem Spiegel sagte sie, ihre Haltung zur Ukraine in den Minsker Friedensgesprächen habe Kiew Zeit verschafft, um die militärischen Fähigkeiten zu verbessern.
Auf einem anderen Blatt steht, dass die Aussage in Moskau zugespitzt worden ist und Putin sagte, Deutschland habe "die Ukraine für Kriegshandlungen vorbereiten wollen". Denn wahr ist auch, dass russische Militärs längst in der Ukraine aktiv waren.
Dennoch hat durch die Äußerungen Merkels und Hollandes die Glaubwürdigkeit Deutschlands und Frankreich schweren Schaden erlitten; die Minsk-Verhandlungen stehen rückblickend per se in einem fragwürdigen Licht.
Vor diesem Hintergrund sind Forderungen von Kritikern einer diplomatischen Verhandlungsinitiative keineswegs mehr moralisch und rechtlich so plausibel, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Der hohe moralische Anspruch verkehrt sich, ganz wie bei Kohlhaas, in sein Gegenteil, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
Der Tod der anderen
Seit Beginn des Krieges starben nach Angaben der Uno 8.231 Zivilisten (Stichtag 12.3.2023) durch Kriegseinwirkungen. Die Zahl der gefallenen Soldaten, die auf beiden Seiten geheim gehalten wird, dürfte zusammengenommen um die 200.000 erreichen.
Wer für die Fortsetzung des Krieges plädiert, muss sich fragen lassen, ob er noch einmal 200.000, 300.000 oder gar eine halbe Million Tote in Kauf nimmt, um eine günstige Verhandlungsposition zu erreichen. Abgesehen davon, dass in den Sternen steht, ob ein solches Ziel realistischerweise überhaupt erreichbar ist. Wer im Gestus des wissenden Realpolitikers Diplomatie für zwecklos erklärt, sollte sich besser mal fragen, wie realistisch die Utopie von substantiellen Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld ist.
Der Krieg hat weitgehend den Charakter eines Stellungs- und Abnutzungskriegs angenommen. Ein militärischer Erfolg der Ukraine ist daher nicht absehbar. Natürlich sind Überraschungen möglich.
Es gehört nun mal zum Wesen von Kriegen, dass sie nur sehr begrenzt planbar sind. Russland hat das selbst bei Kriegsbeginn mit dem Scheitern seiner Blitzkriegsoffensive vor Kiew erlebt. Doch wäre es reines Abenteurertum, darauf eine Strategie zu gründen und auf Wunder zu hoffen, auch wenn der Glaube an wunderbare Wendungen des Kriegsglücks seinerseits typisch ist für Kriegsparteien – vor allem wenn sie auf die Verliererstraße geraten sind.
Abnutzungskrieg und Kräfteverhältnisse
Eine rationale Strategie für den Stellungskrieg müsste dagegen nüchtern die Ressourcen zur Kriegführung auf beiden Seiten kalkulieren. Das heißt das militärische Material – Waffen, Munition etc. und das Potential der Rüstungsindustrie – menschliche Ressourcen, vor allem die Anzahl kampffähiger Soldaten, sowie die wirtschaftliche Kraft der Kriegsparteien.
Schwer zu kalkulieren aber mit in die Rechnung gehören natürlich politische und psychologische Faktoren, wie Kampfmoral der Truppe und die Moral an der Heimatfront.
Was die Verfügbarkeit von militärischem Material angeht, ist die Situation der Ukraine bereits jetzt prekär. Ihr eigenes Material ist weitgehend erschöpft und die Rüstungsproduktion stark zerstört. Daher die völlige Abhängigkeit vom Ausland.
Aber auch da gibt es zunehmend Beschränkungen, wie die Auseinandersetzung um die Lieferung von Kampfpanzern gezeigt hat – von weitergehenden Forderungen Kiews wie Kampfjets, U-Boote etc. ganz zu schweigen. Denn zum einen ist da das Interesse der USA – und zum Teil bei den Nebendarstellern Scholz und Macron – die Eskalationskontrolle zu behalten.
Zum anderen gibt es auch ganz banale Mengenprobleme bei der Beschaffung und den Kapazitäten der westlichen Rüstungsindustrie, die nicht schnell lösbar sind. Russland hat es da mit seiner weitgehend staatlichen Rüstungsproduktion einfacher.
Noch schwieriger sind die Ausgangsbedingungen bei den Humanressourcen. Hatte die Ukraine beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 noch 52 Millionen Einwohner, so waren es einer Volkszählung von 2019 zufolge nur noch 37,3 Millionen.7 Ein Rückgang um 14,7 Millionen, bzw. 28 Prozent.
Dabei sind die Fluchtbewegungen nach Russland und in den Westen seit Kriegsbeginn noch nicht erfasst. Militärstrategen rechnen dann – schematisch vereinfacht – folgendermaßen: die Hälfte der 37 Millionen sind Frauen, die (mit Ausnahmen) nicht eingezogen werden; sieben Millionen sind zu jung oder zu alt fürs Militär; acht Millionen sind unentbehrlich in der Wirtschaft und anderen zivilen Sektoren, also Ingenieure, Facharbeiter, Ärzte, Lokführer, Buchhalter, Lehrer, Bäcker, Landwirte etc. Von den übrigen im wehrfähigen Alter sind 500.000 untauglich oder ins Ausland geflüchtet, sodass gerade noch 2,5 Million Mann übrigbleiben, die kriegsverwendungsfähig sind.
Wenn man jetzt die parallele Rechnung für Russland mit seinen ca. 145 Millionen Einwohnern aufmacht, muss man keine Militärakademie absolviert haben, um zu sehen, wer hier den längeren Atem hätte, wenn es darauf ankommt.
Auch ökonomisch stehen die Kräfteverhältnisse für die Ukraine nicht günstig. Zwar schrumpfte die russische Wirtschaft 2022 infolge der historisch beispiellosen Sanktionspolitik um 2,2 Prozent, die der Ukraine aber um dreißig Prozent. Den IWF-Prognosen zufolge soll die russische Wirtschaft 2023 um 0,3 Prozent und 2024 um 2,1 Prozent wachsen, sogar stärker als die deutsche (0,1 Prozent und 1,4 Prozent).1
Aber selbst wenn die Sanktionen in Russland längerfristig Schäden anrichten und eine Substitution nicht oder nur teilweise gelingen sollte, wäre die Ukraine längst das, was die deutsche Außenministerin Russland an den Hals gewünscht hat: ruiniert.
Hier liegt auch der Schwachpunkt des Kriegsziels der USA und ihrer europäischen Gefolgschaft, nämlich Russland als geopolitischen Rivalen zu schwächen. Denn ein Stellvertreterkrieg funktioniert nur so lange, wie der Stellvertreter zur Kriegsführung in der Lage ist. Deshalb sollte jeder, der Solidarität mit der Ukraine ernst nimmt, sich dafür einsetzen, dass das Schießen lieber heute als morgen aufhört. Die Zeit arbeitet nicht für die Ukraine. Da geht es ihr wie Michael Kohlhaas.
Peter Wahl ist Publizist, Gesellschaftswissenschaftler mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen, Mitbegründer von Attac.
Redaktionelle Anmerkungen:
- Die Angabe zum Rückgang der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 wurde korrigiert und verlinkt.
- Der Absatz zu den Aussagen Angela Merkels und François Hollande wurde ergänzt und präzisiert.
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