Das Schweigen der Lämmer

Zur Vergewaltigung einer Minderjährigen in einer deutschen Fußgängerzone

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das Ermittlungsbehörden und Gerichte oft in große Beweisnöte bringt, weil es sich im Abseits der Öffentlichkeit vollzieht. So war es jedenfalls bisher. In Heide/Schleswig-Holstein vergewaltigte dagegen in diesen Tagen ein 19-jähriger, volltrunkener Täter eine 14-Jährige in der Fußgängerzone. Es geschah am helllichten Tag. Doch der Täter ist weniger Täter als eine Öffentlichkeit, die keine mehr ist. Das Mädchen bat mehrfach um Hilfe, diverse Passanten beobachteten das Geschehen. Doch keiner der Anwesenden fühlte sich aufgerufen, dem minderjährigen Opfer zu helfen. Spät, sehr spät, zu spät, nach der Tat rief schließlich einer die Polizei.

Dass Ehemänner ihre Ehefrauen vergewaltigen, Mütter Neugeborene in Mülleimer werfen, Gefangene Mitgefangene in Justizvollzugsanstalten vergewaltigen - das kannten wir bereits. Das lässt sich ahnden, aber nicht endgültig aus unserer Zivilisation der schlecht geregelten Triebe und gefährlicher Privatheit verbannen. So wenig wie Terroristen, Attentäter oder Amokläufer. Die Tat in Heide gehört dagegen bereits einer neuen Kategorie an: Sie demonstriert den schleichenden Strukturwandel einer Öffentlichkeit, die sich nicht mehr als Öffentlichkeit wahrnimmt.

Es wird keine Kontrolle mehr ausgeübt durch Anwesende, die ein solches Ereignis wie einen Film - jenseits ihrer Wirklichkeit - mit kaltem Auge, wenige Meter vom flehenden Opfer entfernt, betrachten können, ohne etwas zu sehen. Auch in den 20er und 30er-Jahren entglitt der Gesellschaft zunehmend die Kontrolle über den öffentlichen Raum. Radikalpolitische Straßenbanden lieferten sich blutige Schlachten, ohne den Widerstand der Öffentlichkeit fürchten zu müssen. Während der Judenpogrome wurden Widerstand und Zivilcourage zu seltenen bis nie gefundenen Tugenden einer gleichermaßen eingeschüchterten wie feigen Bürgergesellschaft.

Doch der Fall in Heide hat eine andere Qualität. Es ist ein kategorialer Unterschied, ob es zu einer vom Staat geförderten oder tolerierten Gewalt in der Öffentlichkeit kommt oder diese Öffentlichkeit sich überhaupt nicht mehr als Gemeinschaft reflektieren kann. In der Verfilmung von H.G. Wells "The Time Machine" gibt es eine eindringliche Szene, in der ein Mitglied der so schönen wie infantilen Schafmenschen "Eloy" in einen reißenden Strudel gerät und keiner der "Mitmenschen" den moralischen Impuls verspürt, ihm zur Hilfe zu eilen. Der beherzt agierende Zeitreisende rettet schließlich den Ertrinkenden und lehrt diese Gesellschaft das verlorene Gemeinschaftsgefühl - so wie Prometheus die Menschen das Feuer. Der Film variiert dieses Motiv eines abgestorbenen Gemeinschaftsgefühls auf verschiedene Weise, um die gesellschaftskonstituierende Bedeutung von Zivilcourage und Solidarität gegen die Vertierung des Menschen - entweder als Opfer (Eloy) oder als Täter (Morlocks) - in Erinnerung zu rufen.

Mit dem Ereignis in Heide könnte sich der Verdacht erhärten, dass wir von dieser Antiutopie menschlicher Bindungslosigkeit weniger weit entfernt sind, als wir glauben möchten. Seit Jahren werden soziologische Experimente vorgestellt, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln attackierte Ausländer ohne jeden Beistand der Mitfahrenden bleiben. Gewiss, wir kennen die Entschuldigungen: Soll ich meine eigene körperliche Integrität riskieren, wenn Schläger außer Rand und Band geraten? Aber in Heide fanden die teilnahmslos Teilnehmenden nicht einmal den für sie völlig gefahrlosen Griff zum Handy, um staatliche Hilfe zu alarmieren.

Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Polizei stehen verständnislos vor der Tat. Ein Staatsanwalt nennt es "Sauerei". Aber das trifft es nicht. Denn solche Verhaltensweisen werden ja regelmäßig von keinem schlechten Gewissen oder gar Vorsatz geprägt, sondern gedeihen in sozialautistischen Gesellschaften, die längst "medientechnisch" gelernt haben, den Anderen als belanglosen Partikel einer Masse auszublenden.

Adorno plante ein Spätwerk mit dem Titel "Kälte". Die Vergewaltigung von Heide wäre ein gutes Beispiel für die fallenden Temperaturen in einer Gesellschaft, die sich den Betriebsstoff "Solidarität" nicht mehr leisten will oder kann. Dass passt gut zu einer Nichtgemeinschaft, die auch in makropolitischer Perspektive nicht mehr in der Lage ist, effektive Formeln für eine sozialverträgliche Verteilungsgerechtigkeit zu finden. Seht Euch vor, Heide ist überall.