Das Virus, der Kapitalismus und wir
Seite 2: Von öffentlichen Ärgernissen und Privatsachen in der Pandemie
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Die Arbeitswelt, der Produktionsbereich wird unsichtbar gemacht. Die Scheinwerfer der Aufmerksamkeit sind auf das gerichtet, was jenseits davon passiert. Das ist nicht furchtbar neu, aber hilfreich zu verstehen, worauf wir "achten" sollen, was in den Blick genommen wird. So ist die Straßenkriminalität fast immer im Blick, wenn man Kriminalität thematisieren, im wahrsten Sinne des Worts verorten will. Fast nie bekommt man bei diesem Thema Chefetagen und Konferenzzimmer (und Saunawelten) zu sehen.
Das bringt Johannes Hauer dazu, den französischen Philosophen Jacques Rancière zu Rate zu ziehen, der von einer "Aufteilung des Sinnlichen" spricht, in der bestehende Hierarchien und Trennungen stabilisiert werden: Eine "Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird und jenes andere als Lärm." (La Mésentente', Das Unvernehmen, 2002)
Was bedeutet dies für die Wahrnehmungsökonomie, also auch für uns? Wir haben die Parks und Corona-Partys im Auge, die Après-Ski-Gelage und machen sie für die Verschärfungen verantwortlich. Gleichzeitig sorgen wir mit dafür, dass man "aus dem Arbeitsplatz einen privaten Raum macht, der nicht von den Weisen des Sehens und des Sagens regiert wird, die dem eigen sind, was man öffentlichen Raum nennt." (Rancière).
Wem das zu philosophisch ist, dem empfehle ich das geniale Fazit dieses Beitrags: "Drei Menschen in einem Park sind ein öffentliches Ärgernis, 3.000 Menschen in einer Fabrik sind Privatsache."
In der öffentlich-rechtlichen Diskussion über die Wirksamkeit eines "harten" Lockdown blitzt ganz selten ein Lichtblick auf. Da wird zu bedenken gegeben, dass es harte Lockdowns in Frankreich und Spanien bereits gab und dass die Infektionszahlen dort heute höher sind als in Deutschland. Das wäre doch ein gewichtiger Grund, dem nachzugehen! Warum geht niemand diesem Einwand nach?
Man ahnt bei den Experten, dass sie die Antwort haben, dass man diese jetzt nicht hören will. Ein noch so harter Lockdown im Privatbereich kann das Infektionsgeschehen in der Arbeitswelt nicht verhindern.
Privatbereich als zu überwachender Raum
Wenn Herr Söder sagt, dass jetzt keine "halben Sachen" mehr gemacht werden, dann ist das nur dann keine Lüge, keine Täuschung, wenn man die Arbeitswelt nicht dazuzählt, wenn man die Verhältnisse auf den Kopf stellt.
Der Privatbereich ist heute (mehr denn je) öffentlicher, zu überwachender Raum und der gesamte Produktivsektor ist (mehr denn je) Privatsache. Dort gilt das, was man sich vom Privatleben verspricht: Keine staatliche Einmischung, keine staatliche Überwachung, keine (Corona-)Vorschriften.
Es verwundert also überhaupt nicht, dass man nun laut mit autoritären Maßnahmen droht. Wie will man auch einem halbwegs erwachsenen Menschen erklären, dass Kontakte in der Arbeitswelt kein Gesundheits- und Infektionsrisiko sind, in einem Café, in dem die Tische zwei Meter auseinanderstehen, aber schon.
Keine halben Sachen?
Gerade wenn es uns um die Gesundheit aller geht, wenn wir es tatsächlich mit der Solidarität ernst meinen, dann sollten wir endlich zusammen die Forderung aufstellen, dass der Lockdown dort stattfinden muss, wo die meisten Kontakte, die größte Ansteckungsgefahr besteht, also im Wirtschaftssektor.
Und da wir als Privatmenschen schon reichlich in Vorleistung getreten sind, ist es mehr als gerecht, wenn wir einen Lockdown im Wirtschaftssektor fordern und zum Ausgleich den Freizeit- und Privatbereich wieder zugänglich machen, mit alle den Hygienekonzepten, die schon längst da sind und nun vor verschlossenen Türen die Tyrannei des Unsinns verkörpern.
Diese Forderung würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen würden wir denen, die uns in Namen unsere Gesundheit das Leben schwermachen, nicht länger hinterherschleichen.
Zum anderen würden wir genau jene, die sich hinter unserer Gesundheit verstecken, aus der Deckung holen, wenn sie begründen müssen, warum die Verbreitung des Virus der Preis für den Kapitalismus ist, der "alternativlos" ist.
Um genau diese rote Linie geht es. Halten wir sie mit ein, halten wir sie selbst für unüberschreitbar oder wagen wir uns, sie zu übertreten.
Es geht also dabei nicht nur um "die", sondern auch um uns.