Das Windturbinensyndrom und der Nocebo-Effekt
Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen beklagen sich häufig über eine Krankheit namens "Wind Turbine Syndrome". Die gibt es zwar nicht, die Symptome sind aber durchaus real - ein Beispiel für den Nocebo-Effekt.
"Eine Arztfamilie machte Urlaub auf Gran Canaria und wollte eine Saline besichtigen, geriet dabei an einen Windpark mit etwa 20 Windkraftwerken. Nach kurzer Zeit klagten die Frau und die jüngste Tochter, die Familie war zu fünft unterwegs, über Übelkeit, Schwindel und Atemnot, sie fühlten sich sehr mies. Nachdem sie sich etwa 1 Kilometer entfernt hatten, gingen die Symptome langsam zurück." So berichtet die Seite windwahn.de über die Erstsymptome einer Krankheit namens "Wind Turbine Syndrome".
Berichte wie diese findet man zuhauf im Netz, meistens in englischer Sprache. Doch trotz dieser eindrücklichen Erfahrungen: Das weltweite ICD-Klassifikationssystem für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kennt auch in seiner jüngsten Fassung von 2013 kein "Windturbinensyndrom".
Windkraftanlagen sind in einem kleinen Radius hörbar, doch die Geräusche nehmen schon nach wenigen Metern deutlich ab. Hinter dem Wind Turbine Syndrome steckt aber laut Windkraftgegnern ein anderer Grund: Der sogenannte Infraschall, also Geräusche mit niedriger Frequenz, die durch das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind. Infraschall gibt es allerdings nicht nur durch Windkraftanlagen, er wird beispielsweise auch durch Meereswellen erzeugt. Ein Meeresküstensyndrom, das arglose Nordseeurlauber heimsucht, ist bisher allerdings nicht bekannt. Eine wissenschaftlich plausible Begründung, in welcher Form Infraschall für die zahlreichen angeblichen Symptome verantwortlich sein soll, gibt es nicht.
Der Begriff des "Windturbinensyndroms" geht auf ein im Eigenverlag publiziertes Buch der Psychologin Nina Pierpont aus den USA zurück. Wissenschaftliche Fachartikel zum Thema hat Pierpoint nicht publiziert. Das Buch gilt auch bei deutschen Windkraftgegnern als Standardlektüre.
Eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Sydney hat kürzlich den Zusammenhang von Windkraftanlagen und Beschwerden über dadurch ausgelöste Gesundheitsprobleme untersucht. Die Ergebnisse sprechen eine relativ deutliche Sprache: Bis zum Jahr 2008 gab es Berichte über Gesundheitsprobleme im Umfeld von Windkraftanlagen nur sporadisch. 2009 stiegen diese sprunghaft an - kurz nach der Veröffentlichung des Buches von Nina Pierpoint. Wie es scheint, hat das Buch selbst deutlich stärker zu Gesundheitsproblemen beigetragen als die Windkraftanlagen.
Laut den Studienautoren gingen 70 Prozent der in Australien stehenden Windkraftanlagen vor 2009 ans Netz, trotzdem stammen 82 Prozent der Beschwerden über Gesundheitsprobleme aus der Zeit nach 2009. Bei 31 von 49 untersuchten Windparks lagen überhaupt keine Berichte über Gesundheitsprobleme vor. Dafür gab es jedoch eine starke Korrelation zwischen Initiativen, die sich gegen die Windkraftnutzung wendeten und späteren berichteten Gesundheitsproblemen. Von den 18 Windparks, an denen Gesundheitsprobleme berichtet wurden, gab es an 13 Standorten aktive lokale Protestgruppen. Hingegen wurden bei keinem einzigen der 31 Windparks ohne Proteste Berichte über Gesundheitseinschränkungen registriert.
Imaginäre Ursachen, reale Wirkungen
Es spricht alles dafür, dass es sich beim "Windturbinensyndroms" nicht um eine mysteriöse neue Krankheit sondern um einen sogenannten Nocebo-Effekt handelt. Davon geht auch die Mehrzahl der Mediziner aus. Der Nocebo-Effekt ist sozusagen das bösartige Gegenstück zum oftmals erwünschten Placebo-Effekt.
Vom Placebo-Effekt sprechen Mediziner, wenn ein Medikament oder eine andere medizinische Maßnahme, die selbst keinerlei Effekt hat, trotzdem zu einer Verbesserung des Wohlbefindens beim Patienten führt. Auch wenn das Medikament - beispielsweise ein hochverdünntes homöopatisches Mittel - wirkungslos ist, sind die Verbesserungen beim Patienten real. Alleine der Glaube an die Wirksamkeit kann dazu führen, dass ein Medikament wirkt. Die Medizin macht sich das quasi automatisch zunutze, denn auch ein wirksames Medikament hat zusätzlich einen Placebo-Effekt.
Beim Nocebo-Effekt ist es genau umgekehrt: Es reicht bereits, dass ein Betroffener glaubt, dass Windkraftanlagen gesundheitliche Probleme bereiten, um Symptome wie Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit zu verursachen. Es greift allerdings zu kurz, hier nur von einer eingebildeten Krankheit zu sprechen. Denn die Symptome sind durchaus real. Eingebildet ist nur die Ursache der Erkrankung.
Das "Windturbinensyndrom" ist nicht das einzige Beispiel für Nocebo-Erkrankungen. Ähnliche Effekte sind etwa bei der sogenannten Elektrosensibilität zu beobachten. Die Betroffenen behaupten, durch WLANs, Mobilfunkantennen und Stromleitungen zu erkranken, eine Thematik, die auch im Zusammenhang mit dem Stromnetzausbau immer wieder aufgeworfen wird.
Eine besonders extreme Ausprägung des Phänomens lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten: Dort zieht es die vermeintlich Elektrosensiblen in eine Region im Bundesstaat West Virginia. Auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern sind hier Mobilfunkmasten und WLANs verboten - allerdings nicht zum Schutz vor Nocebo-Krankheiten, sondern um den störungsfreien Betrieb eines Radioteleskops für die astronomische Forschung zu ermöglichen.
Doch obwohl die Betroffenen immer von akuten Symptomen berichten - angeblich haben sie sofort Kopfschmerzen, sobald eine Strahlungsquelle in der Nähe ist -, ist es bislang noch keinem der angeblich Elektrosensiblen gelungen, in einem korrekt verblindeten Versuch zuverlässig zu erkennen, ob eine Strahlungsquelle gerade sendet oder nicht.
Medien verstärken den Nocebo-Effekt
Da der Nocebo-Effekt sehr stark durch Medienberichte und Veröffentlichungen beeinflusst wird, ergibt sich hier auch ein nicht ganz einfacher Interessenskonflikt für die Presse. Denn selbstverständlich wirkt dieser auch dann als zusätzliches Risiko, wenn vor einer ganz realen Gefahr gewarnt wird. Ein kürzlich im Magazin New Yorker erschienener Artikel nennt hierfür als Beispiel die Anschläge der Aum-Sekte auf die U-Bahn von Tokio im Jahr 1995. Anhänger der Sekte fluteten Bahntunnel in der japanischen Hauptstadt mit giftigem Sarin-Gas. Die Krankenhäuser der Stadt wurden in den folgenden Tagen von zahlreichen Personen aufgesucht, die von in den Medien verbreiteten Symptomen berichteten, die aber nachweislich nicht mit dem Gas in Kontakt geraten sein konnten.
Für Medien stellt sich also die oftmals sicher nicht ganz einfache Problemstellung, über reale Gefahren - man denke nur an die Reaktorkatastrophe von Fukushima - angemessen zu berichten, aber nicht durch eine übertriebene Berichterstattung zusätzliche Symptome zu verursachen.
Auch Medizinern macht der Nocebo-Effekt zu schaffen. Ärzte sind angewiesen, ihre Patienten über mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten aufzuklären, gleichzeitig riskieren sie damit aber, diese Nebenwirkungen gerade dadurch, dass sie sie ansprechen, zu verursachen. Beipackzettel von Medikamenten listen meist eine große Zahl von Nebenwirkungen auf, die meisten davon betreffen aber nur sehr wenige Patienten.
Eine in den Niederlanden durchgeführte Studie gibt möglicherweise Hinweise für effektive Maßnahmen gegen das "Wind Turbine Syndrome". Personen, die eine negative Einstellung gegenüber dem optischen Erscheinungsbild der Windkraftanlagen hegen, klagen deutlich häufiger über Belästigungen durch Windkraftanlagen. Weiterhin sinken die berichteten Belastungen ganz erheblich, wenn die Betroffenen finanzielle Vorteile durch den Bau der Windkraftanlagen erhalten - etwa durch reduzierte Stromtarife für lokal vermarkteten Strom oder durch eine direkte finanzielle Beteiligung.