Das "andere Europa": Europäische Flagge für Rettungsschiffe im Mittelmeer
Ein Vorschlag
Szenario 1: In Berlin kommt es Mitte Januar 2020 zur sogenannten Libyen-Konferenz, wo geklärt werden soll, wie man das Land befrieden und für Ordnung sorgen kann. Krieg ist nicht immer gut fürs Geschäft. Die europäischen Staatsmänner und -frauen wollen selbstverständlich auch die Fluchtversuche über das Mittelmeer beenden, im Abschlusspapier der Konferenz tauchen die Bootsflüchtlinge und die Ertrinkenden aber nicht auf. Lediglich von "illegaler Migration" ist die Rede.
Szenario 2: Zur gleichen Zeit fischen Rettungsschiffe wie die "Ocean Viking" oder die "Alan Kurdi" Hunderte von Menschen aus dem Wasser, die von Libyen aus Richtung Europa aufbrechen. Darunter immer mehr Minderjährige und Kinder ohne Begleitung. Die unabhängigen nicht-staatlichen Seenotrettungsorganisationen begeben sich ungebrochen ins Mittelmeer, um dort zu helfen und Menschenleben zu retten.
Doch Szenario 3 fehlt: Das Handeln der Europäische Union (EU). Was tut sie gegen das Sterben? Wo folgen den großen Worten von Berlin Taten?
Wenn die Libyen-Konferenz eines gezeigt hat, dann, dass nichts gelöst ist von den Problemen im Land und von den Ursachen für Flucht.
In der EU fordern seither Stimmen, das Programm "Sophia" wieder zu beleben. Das wäre aber nur ein halber Schritt, weil es bei der EUNAVFOR MED Sophia, der European Union Naval Force Mediterranean vor allem um Grenzschutz im Namen der Bekämpfung krimineller Menschenschmuggler und Sklavenhändler ging. Dass die EU-Militärschiffe bei ihren "Sophia"-Einsätzen auch Menschen aus Seenot geborgen haben, war gewissermaßen ein unvermeidliches Nebenprodukt.
Wenn schon, dann müsste so etwa wie "Mare Nostrum" wiederbelebt werden, das ehemalige Seenotrettungsprogramm Italiens. Weil die EU das Land dabei aber allein ließ, stellte Italien Mare Nostrum 2014 wieder ein. Danach begann das große Sterben und die NGOs machten sich auf den Weg ins Mittelmeer. Notwendig wäre eine Art Mare Nostrum auf EU-Ebene unter Einbeziehung der NGO-Schiffe.
Widersprüchlicher Umgang mit den NGOs und ihren Schiffen
Stattdessen gehen deren Behinderungen weiter, wenn auch auf teils widersprüchliche Weise. Carola Rackete, jene Kapitänin, die im Juni 2019 das Rettungsboot "Sea-Watch 3" mit Schiffbrüchigen an Bord gegen das Verbot des damaligen italienischen Innenministers in den Hafen von Lampedusa steuerte, wurde im Januar 2020 vom obersten Gericht Italiens endgültig freigesprochen. Die Jury wies den Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen die bereits im Juli 2019 erfolgte Freilassung Racketes zurück. Aufgrund der Notfallsituation an Bord habe sie das Recht gehabt, in den Hafen einzufahren.
Zur gleichen Zeit ist aber ihr Kollege Claus-Peter Reisch, der im September 2019 dasselbe tat und ein Schiff mit Geretteten ohne Erlaubnis in italienische Gewässer lenkte und dann von der Küstenwache begleitet in den Hafen der sizilianischen Stadt Pozzallo einfuhr, mit einem Strafbefehl von über 300.000 Euro konfrontiert. Dieser Aktion wurde so gut wie keine mediale Aufmerksamkeit gewidmet. Das Beispiel durfte keine Schule machen. Das Schiff "Eleonore" wurde beschlagnahmt und liegt bis heute im Hafen von Pozzallo. Möglicherweise wird im Februar darüber vor Gericht verhandelt.
Dagegen gaben die italienischen Behörden bereits im Dezember 2019, kurz vor Weihnachten, das Schiff "Sea-Watch 3" wieder frei, das im Juni beschlagnahmt worden war und im Hafen von Licata festsaß. Das Schiff "Iuventa" der Organisation "Jugend rettet" wiederum liegt seit zweieinhalb Jahren unverändert im Hafen von Trapani. Es wurde im August 2017 konfisziert, weil man den zivilen Rettern unterstellte, sie könnten damit Straftaten begehen. Als "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" wird die Rettung von Schiffbrüchigen immer wieder denunziert. Bis heute wird der ehemaligen "Iuventa"-Crew allerdings keine einzige Straftat konkret vorgeworfen, es gibt keine Anklage.
Kapitän Reisch wiederum hat ein anderes Verfahren gewonnen. Die maltesischen Behörden hatten ihn beschuldigt, das Schiff "Lifeline", das unter niederländischer Flagge fuhr, falsch registriert zu haben. Dafür sollte er 10.000 Euro Strafe zahlen. Die hat ein Berufungsgericht Anfang Januar kassiert.
Der Fall liegt eineinhalb Jahre zurück. Im Juni 2018 war das Schiff mit 230 Migranten an Bord in maltesische Gewässer eingefahren. Im Mai 2019 wurde die Geldstrafe verhängt, erst jetzt erfolgte der Freispruch für den Kapitän. Der Betreiber Mission Lifeline bekommt sein Schiff damit zwar zurück, wird es aber nicht mehr einsetzen können, da, wie er mitteilt, "uns kein Staat unter annehmbaren Bedingungen eine Flagge zur Verfügung stellt". Das Schiff ist "verbrannt". Die privaten Retter um den Dresdener Axel Steier haben deshalb ein neues Schiff gekauft, das derzeit umgebaut wird und im Frühjahr in den Einsatz gehen soll: die "Rise Above", ein ehemaliges Torpedofangboot der Bundeswehr.
Der widersprüchliche Umgang mit den NGOs und ihren Schiffen zeigt, dass etwas in Bewegung geraten ist. Offensichtlich sind sich Exekutive und Justiz in den EU-Ländern nicht mehr so sicher und handeln nicht mehr so einheitlich wie noch vor einiger Zeit. Die Kriminalisierung der unabhängigen Seenotretter ist damit aber nicht vorbei.
Hafenverbot und Flaggenentzug sind die bevorzugtesten Instrumente
Die Angriffe auf die zivilen Rettungsschiffe, die 2017 begannen, hatten sich unter anderem an der Beflaggung festgemacht und auch auf die jeweiligen Flaggenstaaten gezielt. Die "Aquarius", das Schiff der Nicht-Regierungsorganisation SOS Mediterranee, operierte unter gibraltarischer Flagge. Nach über zweijährigem Einsatz entzog der kleine Staat, der bis dahin die Rettungsmissionen mitgetragen hatte, auf Druck Italiens und Britanniens dem Schiff die Flagge wieder.
Ohne staatliche Flagge ist jedes Schiff rechtlos und kann keinen Hafen der Welt anlaufen. Es gilt quasi als Piratenschiff. SOS Mediterranee wechselte zu Panama. Doch die Halbwertszeit betrug nur wenige Wochen, dann strich auch dieses Land die Segel. Die italienische Regierung hatte damit gedroht, sämtlichen panamaischen Frachtern italienische Häfen zu verwehren.
Das Spiel nahm bizarre Züge an. SOS Mediterranee beschaffte sich die Flagge des afrikanischen Staates Liberia, allerdings rein provisorisch und zur Bedingung, keine Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer zu fahren. Kein Land wollte dem Schiff mehr eine Flagge geben, zuletzt lehnte der Schweizer Bundesrat, die Regierung, den Antrag mehrerer Nationalrats-Abgeordneter ab. Das Schiff war "kontaminiert". Die Reederei kapitulierte und zog die "Aquarius" zurück.
Seit Sommer 2019 ist SOS Mediterranee zurück auf See mit dem Kreuzer "Ocean Viking", der unter norwegischer Flagge fährt. Er war unter strikter Geheimhaltung im Hafen der polnischen Stadt Stettin für die Rettungseinsätze umgebaut und hergerichtet worden.
Viele Seenotrettungs-NGOs, von denen wiederum viele aus Deutschland kommen, wählten die niederländischer Flagge für ihre Schiffe. Das hat seinen Grund. Niemand fuhr unter deutscher Flagge. Beides ändert sich gerade.
Da die zivilen Rettungsschiffe mit vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen operieren, die nicht bezahlt werden können, sind sie darauf angewiesen, möglichst billig eine staatliche Flagge zu bekommen. Für die deutsche Flagge muss beispielsweise eine professionelle nautische Crew angestellt werden, es gilt deutscher Lohnstandard und deutsches Sozialversicherungsrecht. Das ist, nebenbei bemerkt, der Hintergrund für die fragwürdige Praxis der "Ausflaggung", wenn auch deutsche Handelsschiffe zu den Nationalflaggen zum Beispiel von Entwicklungsländern greifen. Dann gelten auf dem Schiff deren rechtliche Verhältnisse und soziale Niveaus.
In den Niederlanden besteht die Möglichkeit, auch nicht-kommerzielle Jachten und Sportboote mit dem niederländischen Hoheitszeichen zu versehen. Und weil diese Boote keiner Größenbeschränkung unterliegen, können also auch Rettungsschiffe darunter fallen. Diese Möglichkeit haben viele NGOs genutzt, darunter Jugend rettet mit der "Iuventa", Mission Lifeline mit der "Lifeline", Sea-Eye mit der "Seefuchs" und auch Sea-Watch.
Zu einem ersten Flaggenentzug durch die niederländischen Behörden kam es im Sommer 2018 beim Schiff "Seefuchs". Im Zuge des Konfliktes um die unerlaubte Hafeneinfahrt des Schiffes "Sea-Watch 3" im Juni 2019 erhoben Sprecher von Sea-Watch schwere Vorwürfe gegen die niederländischen Autoritäten. Als ihr Flaggenstaat hätten sie die Verpflichtung, die Zuweisung eines sicheren Hafens und die Verteilung von Geretteten mit zu koordinieren. Dem würden sie nicht nachkommen. Dabei sei im Schiffsbrief der "Sea-Watch 3" in Absprache mit den niederländischen Behörden eingetragen, dass sie ein nicht-kommerzielles Motorschiff, eine Jacht vom Typ Rettungsschiff seien. Das sei auch nie ein Problem gewesen, obwohl regelmäßig Seenotfälle zu managen waren. Erst in dem Moment, als Malta und Italien ihre Häfen dicht gemacht haben, habe Niederlande angefangen, die Registrierung zu hinterfragen. Für die Freigabe des Schiffes habe sich das Land nicht eingesetzt.
Die NGO kritisiert namentlich die zuständige niederländische Ministerin, sie suche nur nach Möglichkeiten, das Ausschiffen geretteter Personen in Europa zu verhindern.
Die Organisation Sea-Watch hat aus dem Konflikt Konsequenzen gezogen. Noch ehe die "Sea-Watch 3" von Italien wieder freigegeben wurde, hat man die Niederlande verlassen und das Schiff nun unter deutscher Flagge registrieren lassen. Die Rettungseinsätze werden zwar teurer, weil die Personalkosten höher sind, der Gewinn ist aber, dass auf dem Fahrzeug nun deutsches Recht gilt. Das verbietet nicht nur doppelt und dreifach die Zurückbringung von Flüchtlingen nach Libyen, sondern muss es den EU-Staaten, vor allem Malta und Italien, erschweren, ein Schiff mit einer solchen Flagge abzuweisen. Obwohl - muss man dazu sagen - der einstige italienische Innenminister Salvini auch schon italienischen Schiffen mit Geretteten an Bord die Häfen verschloss. Jedenfalls ist bei allen Missionen, die unter schwarz-rot-goldenem Tuch laufen, das deutsche Außenministerium - um im Bild zu bleiben - mit im Boot.
Immer mehr NGOs wechseln zur Bundesflagge
Die "Seefuchs" ging nach dem Flaggenentzug durch die Niederlande zur deutschen Flagge. Allerdings zog der Verein Sea-Eye das Schiff gleichzeitig zurück. Er schaffte ein neues an, die "Alan Kurdi", die von Anfang an unter deutscher Flagge fuhr. Das habe sich gelohnt und Vorteile gebracht, sagt eine Vertreterin von Sea-Eye, bei den italienischen Behörden mache das durchaus Eindruck.
Die deutsche Flagge ist auch bei einem aktuellen Projekt bereits beschlossene Sache: das Rettungsschiff der evangelischen Kirche. Das Projekt geht auf den Evangelischen Kirchentag im Juni 2019 in Dortmund zurück. Mit einer Resolution forderte das Kirchenvolk die EKD-Spitze auf, selber ein Boot ins Mittelmeer loszuschicken. Die Kirchenverantwortlichen willigten ein, man gründete einen Verein, der wiederum ein breites gesellschaftliches Bündnis für das Vorhaben organisieren sollte, was auch geschah: Über 300 Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen sind mittlerweile Mitglied in diesem Bündnis namens "United4Rescue". Ein gelungenes Beispiel, wie sich allgemeiner Wille materialisiert.
Jetzt, am letzten Januartag, hat das Bündnis in Kiel ein Schiff für die künftige Mission ersteigert, das frühere Forschungsschiff "Poseidon". Es wird nun umgerüstet und soll im Frühjahr in See stechen. Damit hat das Bündnis "U4R" die NGO Sea-Watch beauftragt.
Einführung einer speziellen Schiffsklasse "Rettungsschiff" oder einer europäischen Flagge
Dort ist man zwar von der deutschen Flagge überzeugt, unter der auch die "Poseidon" fahren soll, aber eigentlich ist das immer noch eine Notlösung. Es gebe einfach keine Schiffsklasse, die "Rettungsschiff" heißt, sagt Ruben Neugebauer, Sprecher von Sea-Watch. Da die NGOs vor allem mit Ehrenamtlichen arbeiten, gebe es eine Notwendigkeit, Seenotrettungsschiffe anders zu behandeln als zum Beispiel Frachtschiffe. Hier tut sich eine Lücke im Völker- und Staatenrecht auf.
Eine Sonderregelung gibt es für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) und ihre Boote, die ebenfalls unter deutscher Flagge fahren - und zwar inklusive Bundeswappen, weil sie nämlich in hoheitlichem Auftrag unterwegs sind. Vor den deutschen Nord- und Ostseeküsten übernehmen sie für die Bundesrepublik den maritimen Such- und Rettungsdienst. Wie die Seenotrettungs-NGOs arbeitet auch die DGzRS zum Großteil (etwa 80 Prozent) mit freiwilligem Personal. Die strengen deutschen Flaggenbedingungen wurden deshalb gelockert.
Warum nicht auch die NGO-Rettungsschiffe so behandeln wie die DGzRS-Schiffe? Die Frage wird ausweichend beantwortet, die Diskussion lieber nicht geführt. Weil sonst die offizielle Anerkennung der NGO-Schiffe als Rettungsschiffe damit verbunden wäre?
Dennoch bleibt die Idee der Einführung einer speziellen Schiffsklasse "Rettungsschiff". Der Vorschlag ist sogar ausbaufähig: Eine eigene "Seenotrettungs-Flagge" könnte zum Beispiel eine "europäische" sein, sozusagen eine Flagge der "EU". Dann wäre jeder Hafen eines EU-Staates zugleich ein Heimathafen dieser Schiffe. Die Verteilung der Migranten läuft sowieso längst an den sogenannten Dublin-Regeln vorbei, nach denen die Geretteten in dem Land zu bleiben haben, wo sie ihren Fuß auf den Boden setzten. In der Praxis sind die Dublin-Regeln bereits abgeschafft, nur auf dem Papier stehen sie noch.
Seenotrettungsschiffe unter europäischer Flagge - damit würde eine wahrhaftige europäische Instanz geschaffen werden, die für Humanität und Menschenrechte steht.
Zumal es auf den Rettungsschiffen bereits im besten Sinne "europäisch" zugeht. Die Teams an Bord setzen sich multinational zusammen. Die NGOs sind meist international organisiert. SOS Mediterranee beispielsweise ist eine deutsch-französisch-italienisch-schweizerische Vereinigung. Auf ihrem Schiff, sagte die deutsche Geschäftsführerin Verena Papke einmal auf einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin, symbolisiere sich ein Stück weit das "andere Europa", das es eben auch gebe. Die Europaflagge, will man ergänzen, gehört auch ihnen.
"Sophia", die der EU-Grenzschutzoperation EUNAVFOR MED den Namen gab, hieß ein Mädchen, das seine gerettete Mutter an Bord eines Schiffes zur Welt brachte. "Alan Kurdi" hieß ein kleiner syrischer Junge, der zusammen mit seinen Eltern beim Versuch nach Europa zu gelangen, ertrunken ist und dessen Bild, wie er angeschwemmt an einem Strand liegt, um die Welt ging. Heute ist er der Namensgeber des Rettungsbootes der deutschen NGO Sea-Eye.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.