Das bessere Amerika?

Während den Vereinigten Staaten die Rolle des imperialistischen Rädelsführers zukommt, gelingt es dem Nachbarn Kanada sich als das bessere Amerika in Szene zu setzen

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Ob Kioto-Protokoll, Irak-Krieg, Multikulturalismus oder Sozialstaat – die Kanadier verweisen zu Recht auf ihre fortschrittliche Politik. Wie sehr zu Recht wird oft nicht hinterfragt, könnte aber nach der Wahl des konservativen Premierministers Stephen Harper an Bedeutung gewinnen (Konservative siegen in Kanada).

Um die Beziehungen zwischen Kanadiern und US-Amerikanern zu illustrieren, sei ein kurzer Ausflug in die Biologie gestattet. Der Begriff Mimese bezeichnet den Versuch eines Lebewesens, von Feinden für etwas Uninteressantes oder gar Willkommenes gehalten zu werden. Gespenstheuschrecken zielen beispielsweise darauf ab, als Zweige wahrgenommen zu werden. Auf die soziale Realität übertragen, stelle man sich also vor, die Zugehörigkeit zu einer beliebten Gruppe verspräche so ungeheure Vorteile, dass Mitglieder anderer Gruppen ihre eigene Herkunft verbergen um als Teil jener beliebteren Gruppe zu gelten. Und wie bei den meisten Bedürfnissen bemüht sich ein kommerzieller Anbieter darum, die Nachfrage zu befriedigen.

Premierministers Stephen Harper

Reisewillige US-Amerikaner kaufen gerne Kanada-T-Shirts und kanadische Nationalsymbole zum Anstecken. Das macht Sinn, denn ohne jeden Zweifel sind Kanadier weltweit beliebter als ihre südlichen Nachbarn. Kanada ist weder Weltmacht, noch Besatzer im Irak, und hat außerdem öffentlichkeitswirksam das Klimaprotokoll von Kioto unterzeichnet. Und für den Fall, dass das Kanadabild der Menschheit zu trübe war, hat Filmemacher Michael Moore in seinem Kassenschlager „Bowling for Columbine“ demonstriert, wie friedliebend die Kanadier sind. Ja, sie schließen nicht mal ihre Haustüren ab, denn Waffengewalt nach US-amerikanischem Muster fürchtet der nördliche Nachbar nicht. Dieses Phänomen ist so bekannt, das sich im neuesten US-Thriller „Syriana“ die Filmfigur Bob Barnes – ein von George Clooney gespielter CIA-Agent – im arabischen Ausland ganz selbstverständlich als Kanadier ausgibt (Die offene Sprache der Macht).

Die Mimese der US-Amerikaner geht so weit, dass kanadische Touristen inzwischen vermeiden kanadische Symbole zu tragen – aus Angst davor, für US-Amerikaner gehalten zu werden. Nicht dass es nicht gute Gründe dafür gäbe, eine Nähe zur US-Außenpolitik, der Todesstrafe und der fehlenden Krankenversicherung zu leugnen. Doch die Überlegenheit mit der sich Kanadier regelmäßig von ihren Nachbarn abgrenzen, hat viel mir geschönter Selbstwahrnehmung zu tun. Und das ist nicht erst seit der Amtsübernahme des neuen konservativen Premierministers Stephen Harper im Januar der Fall.

Kanada hat bisher alle Kriege der USA unterstützt – auch den Angriff auf Vietnam. Und obwohl Soldaten des Zweiten Kommandos des kanadischen Luftlanderegimentes 1993 im afrikanischen Somalia Teenager massakriert haben, hat die Regierung in der kanadischen Hauptstadt Ottawa 2002 Truppen nach Afghanistan entsandt. Dass neun Soldaten dabei inzwischen gestorben sind, hinderte auch die vor kurzem angewählte liberale Regierung nicht daran, weitere 2000 Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Der neue Premierminister kritisierte vor der Wahl außerdem, dass Kanada im Irak-Krieg nicht an der Seite der USA stand. Seine Rüge hatte insbesondere materielle Gründe: Im letzten Jahr gingen 87 Prozent aller kanadischen Exporte an den Nachbarn - vor allem Öl und Industriegüter. Wichtiger ist, dass das aber nicht mal 20 Prozent der US-Importe ausmacht, und Kanada damit wesentlich stärker auf den ungleichen Nachbarn angewiesen ist, als dieser auf Kanada.

Die Konservativen, deren Hochburg die ölreiche Provinz Alberta im Westen des Landes ist, haben mit Michael Wilson nun einen Botschafter nach Washington entsandt, der schon in den 1980ern die Kahlschlagpolitik des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan (Republikaner) in Kanada einführen wollte. „Das Weiße Haus mag Leute, die aus Wirtschaft kommen“, heißt es angesichts Wilsons erfreut aus den USA. Doch nicht nur der Traum vom friedlichen Kanada, sondern selbst der vom Land unberührter Natur gerät ins Wanken.

Die Emission von Treibhausgasen hat sich seit Unterzeichnung des Klimaschutzabkommens von Kioto im Jahre 1993 um 24 Prozent erhöht, und Premier Harper denkt sogar über einen Ausstieg aus der Kioto-Vereinbarung nach. Das Klimaschutzprotokoll hatte er kürzlich als „nicht umsetzbar“ kritisiert, da es die Ölindustrie seiner Heimat zur CO2-Reduzierung verpflichten würde. Die USA waren da ehrlicher, Bush und seine Vorgänger unterzeichneten das Umweltabkommen erst gar nicht.

Liberalität als Anpassungsstrategie der konservativen Regierung?

Seinen multilateralen und friedliebenden Anspruch untermauert Ottawa gerne mit dem Hinweis auf das kanadische Engagement in Afrika, Asien und Lateinamerika. Zwar ist der Entwicklungshilfesatz mit 0,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts höher als der der USA mit 0,1 Prozent, doch bleibt auch Kanada weit hinter den Empfehlungen der UNO zurück. Die fordert, 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu spenden. Beim Thema Armut muss man jedoch selbst innerhalb des zweitgrößten Staates der Erde nicht lange suchen: Wie in den USA leben viele Ureinwohner immer noch unter katastrophalen Bedingungen.

Während die eine Million Indianer und Eskimos nicht mal drei Prozent der kanadischen Bevölkerung ausmachen, ist fast jeder fünfte Strafgefangene indianischer Herkunft. Der Trend dürfte sich fortsetzen, denn die regierenden Konservativen wollen den Norden des Landes militarisieren. Nach dem Konflikt mit Dänemark um die Kontrolle der winzigen, aber strategisch wichtigen Insel Hans im Sommer 2005, legten die Konservativen den Acht-Punkte-Plan „Kanada Zuerst“ vor. Die militärische Sicherung der Arktis diene dem Abbau von Bodenschätzen, heißt es. Harper stellt außerdem ein 3,5 Milliarden Euro umfassendes Hilfsprogramm zugunsten der indigenen Bevölkerung in Frage, das im November 2005 von der damals liberalen Regierung unter Amtsvorgänger Paul Martin angekündigt worden war.

Dieser Schritt könnte die politische Strategie der kanadischen Konservativen zunichte machen. Sie vertrauen ebenfalls auf eine Art Mimese, um sich dem liberalen kanadischen Mainstream anzudienen: Trotz Sympathien für die Neokonservativen südlich der Grenze versucht sich Harper linker zu geben, als er ist. Das muss er auch, denn sein Minderheitskabinett ist auf Stimmen aus den drei anderen Parlamentsparteien angewiesen. Harpers Werdegang begann in der rechtspopulistischen Kanadischen Allianz, die sich 2003 mit den traditionellen Tories zur neuen Konservativen Partei vereinigte. Seine spirituelle Heimat ist die evangelische Kirche. Dennoch versprach er, sich den starken Kräften in seiner Partei entgegenzustellen, die das Abtreibungsrecht zur Debatte stellen wollen. Nach gewonnener Wahl und Stimmen aus dem Lager der Liberalen versicherte Harper eifrig, dass er weder liberale Gesetze einkassieren noch Truppen in den Irak schicken will.

Das sei alles bloß Tarnung und Täuschung, werfen ihm Kritiker vor allem aus der linken Neuen Demokratischen Partei (NDP), aber auch von den französischsprachigen Separatisten und den Liberalen vor. Sie kritisieren Harpers angestrebte Parlamentsabstimmung über die Rückkehr zur traditionellen Definition der Ehe. Doch die Konservativen beruhigten die erhitzen Gemüter unlängst: Die Verfassungsklausel, die es ihnen erlaubt, sich über Gerichtsurteile zu Gunsten der Homo-Ehe hinwegzusetzen oder sie gar abzuschaffen, wird die Regierung nicht nutzen. Anders als in den USA sind in ganz Kanada homosexuelle Eheschließungen möglich. Seit Einführung der Charter of Rights and Freedom, einem breiten Grundrechtskatalog, haben Bürgerrechte in Kanada Hochkonjunktur. Frauen, Minderheiten, Homosexuelle oder einfach paranoide Unternehmer und lärmgeplagte Nachbarn - jeder klagt gegen jeden. Über 1000 Verfassungsfälle werden jedes Jahr in Kanada verhandelt.

Das war nicht immer so, und deshalb sei noch an dunkles Kapital der kanadischen Bürgerrechtsgeschichte erinnert: Während das als Ausschuss für unamerikanische Umtriebe bekannt gewordene Gremium unter Senator Joseph McCarthy in den USA der 1950er mit Hilfe des FBI lautstark vermeintliche Kommunisten verfolgte, arbeitete die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) nicht weniger eifrig an der Inhaftierung linker Oppositioneller und französischer Separatisten. Im kollektiven Gedächtnis der meisten Kanadier ist FBI-Chef J. Edgar Hoover – Amerikas Kommunistenjäger Nr. 1 – der düstere Boss einer düsteren Institution gewesen. Die kanadischen Mounties – wie die Bundespolizei liebevoll genannt wird – werden dagegen als Touristenattraktion vermarktet.

Dabei waren die Mounties ihren US-amerikanischen Kollegen in Sachen Klassenkampf von oben qualitativ nicht unterlegen: Auf Grundlage der so genannten Back-to-work-Gesetze, einer Art Streikverbot, inhaftierte die RCMP noch 1978 J.C. Parrot, den Kopf der kanadischen Postgewerkschaft CUPW. Sein Vergehen: Er hatte seine Kollegen nicht deutlich genug darauf gedrängt, ihren wilden Streiks abzubrechen. Heute warnen die Gewerkschaften vor einer Amerikanisierung durch den Lobbyismus „rechter Unternehmerverbände”. Sie befürchten die Integration der kanadischen in die US-amerikanischen Streitkräfte, weitere Angriffe auf die sozialen Sicherungsnetze und eine Einschränkung der Bürgerrechte in Kanada.

Schon jetzt wird die öffentliche Krankenversicherung schrittweise aufgeweicht, meistens mit dem Anspruch die langen Wartezeiten für Operationen durch die Förderung privatwirtschaftlicher Kliniken zu verkürzen. Die Vereinigten Staaten haben mit knapp 300 Millionen fast zehnmal so viele Einwohner wie Kanada, deren Bevölkerung erst kürzlich auf 32 Millionen anstieg.