Das bessere Leben
Anders leben als die Masse: Captain Fantastic, Rousseau und das Glück
Ein Spaziergang am malerischen Strand der Bretagne. Noch ist nichts Böses zu ahnen. Ein Mann und eine Frau, fortgeschrittenen Alters. Wir erfahren schnell: Nathalie ist Philosophielehrerin, auch ihr Mann unterrichtet Germanistik an der Universität.
Sie führen ein Leben, das einerseits Züge bürgerlicher Intellektueller hat, mit großen Bücherwänden und Gesprächen über Philosophie. Andererseits ist dies auch ein ganz offener, liberaler Haushalt in dem ein lässiges Leben vorherrscht.
Man isst gern, trinkt guten Wein, und genießt das Leben. Die erwachsenen Kinder sind ebenso gern zu Gast wie die Studenten des Paares. Und nebenbei kümmert sie sich noch um ihre als Mutter, die recht besitzergreifend ist und allmählich schrullig wird.
Um die Zukunft hat sich Nathalie in ihrem ausgefüllten Alltag bisher kaum Gedanken gemacht. Doch eines Tages ändert sich alles: Da wird Nathalie überraschend von ihrem Ehemann verlassen und ist plötzlich mit einer ganz anderen Form von Freiheit konfrontiert. Ihr ganzes Leben gerät aus den Fugen. Sie muss nun sich selbst und ihr Leben neu erfinden. Was tun? Wie soll man eigentlich leben? Und wozu überhaupt?
"Wehe dem, der keine Wünsche mehr hat.."
Aus diesen Fragen und der Grund-Konstellation - ältere Frau wird verlassen - würden 90 Prozent aller Filmemacher einen Witz machen, nach dem Motto: Da sieht man es mal, wenn es darauf ankommt, helfen keine Bücher, Philosophie taugt eben nicht für die Praxis.
Mia Hansen-Løve macht genau das nicht. Sondern sie zeigt in ihrem Film "Alles was kommt", dass kluge Theorie wie gute Kunst vor allem das Leben herausfordernd kommentieren und situativ in Frage stellen.
"Wehe dem, der keine Wünsche mehr hat.. Er verliert alles, was er besitzt. Man ist nur glücklich, bevor man glücklich ist", zitiert Nathalie einmal im Unterricht den Philosophen Jean-Jacques Rousseau. So wie der Film auch andere Denker einen mal ernstgemeinten, mal ironischen Zwischenstop einlegen lässt: Von Anders bis Žižek. Das ist ebenso schön wie klug. Wunderbar ist die Beiläufigkeit der Inszenierung - geprägt von feinem Gespür für leise Töne, unaufgeregt und intelligent. Intellektualität entspricht hier nicht dem Klischee, trocken, spröde und kalt zu sein, es ist sinnlich und kommunikativ.
"L'avenir" - "Die Zukunft", wie der Film von Mia Hansen-Love im Original heißt, ist ein Film über die Generation der kulturellen und politischen Revolte von 1968, der warmherzig und mit viel Empathie das Alt- und Konservativ-Werden der 68er beschreibt, der aber auch ihren immer noch jugendlichem Geist und Wagemut, das Leben neu und anders zu denken, nachspürt.
Das sehr spezielle Verständnis von Freiheit in Frankreich
Dies ist auch ein sehr französischer Film: Philosophisch, sinnlich, und intelligent - und das auf eine Art, in der diese drei Elemente kein Widerspruch sind. "Alles was kommt" feiert die französische Lebensart und das sehr spezielle Verständnis von Freiheit, das in unserem Nachbarland vorherrscht und viel mit den schönen Dinge des Lebens, mit Erotik, gutem Essen, Kunst und allgemeinem Genuß aller Dinge zu tun hat - Leben wie Gott in Frankreich hat man das früher genannt. Dazu trägt auch bei, dass der Film an prachtvoll-malerischen Schauplätzen inszeniert ist, Sehnsuchtsorten wie Paris, der Bretagne und den französischen Alpen.
Die Grundhaltung des mitunter absurd-komischen Films ist Optimismus. Hansen-Løve insistiert auf dem Möglichkeitssinn, ihre Hauptfigur Nathalie ruht bei allen Selbstzweifeln, aller Verunsicherung, allen Dummheiten, die sie macht, in sich selbst. Sie ist selbstbewusst, und von dem grundsätzlichen Wissen getrieben, das alles möglich ist. Sehr französisch, sehr rational, sehr ermutigend.
Faszinierend ist aber vor allem, wie Isabelle Huppert diese Hauptfigur spielt. Huppert brilliert subtil zwischen Trotz und Traurigkeit, Stärke und Zerbrechlichkeit. Nicht zu glauben, dass die fantastische französische Darstellerin tatsächlich bereits 63 Jahre alt ist. Nach diesem Film ist in jeder Hinsicht klar, 60 ist das neue 40. Was kommt? Mal sehen. Was geht? Eine ganze Menge!
Captain Fantastic: Die Arroganz des besseren, reineren, gesünderen Lebens
Sie jagen, sie fischen, sie pflücken, was ihnen so auf dem Weg durch die Wälder des pazifischen Nordwestens begegnet; sie leben nachhaltig und vollkommen unabhängig, und sind ganz viel an der frischen Luft. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernähret sie doch. Nieder mit dem Konsumterror! Schluss mit dem Kapitalismus! Nie wieder Zwänge! Nie wieder Materialismus!
Dies ist die andere Folge von 1968: Neohippies und Aussteiger, schwarzgrüne Konsumverweigerer, die Arroganz des besseren, reineren, gesünderen Lebens. Ben, ein Mann mit langem Bart und etwas aus der Mode gekommenen Seventies-Klamotten ist zunächst einmal ein sympathischer Rechthaber. Mit seiner Frau Leslie und ihren gemeinsamen fünf Kindern leben sie im Wald, abseits der Gesellschaft. Doch dann stirbt Mutter Leslie. Allein schafft Ben das nicht mehr. Zumal sich nun der Vater der Verstorbenen, der strenge Opa in das Leben der Familie einmischt. Es droht die Vertreibung aus dem selbstgeschaffenen Paradies.
Zuvor zeigt Matt Ross' Film "Captain Fantastic" aber erst einmal, wie Ben mit seinen Kindern lebt. Die Gattin hatte, auch als sie noch am Leben war, nicht viel zu melden, sondern blickte blind bewundernd zu Pascha Ben auf. Viggo Mortensen spielt diesen Vater als charismatische Patriarchen-Figur, wenn auch eine der wohlmeinenderen Art.
Linkslibertäre Disziplin
Paradoxerweise besteht gerade dieser linkslibertäre Anarchist auf strenger Disziplin. Die Kinder wirken sämtlich wie kleine Rekruten, die der Vater in jedem Lebensdetail streng kommandiert. Sie teilen seine Weltsicht, denn eine andere kennen sie gar nicht. Also plappern sie Vaters plumpe Phrasen nach, wie Roboter.
Was ist Coca Cola? "Dreckiges Wasser", na klar! Was sind Oma und Opa? "Faschisten", was sonst? Was sind Faschisten? "Agenten des Großkapitals."
"Einmal Wildnis und zurück" heißt jetzt der amerikanische Film "Captain Fantastic" im deutschen Untertitel - die Filmverleiher lieben es hierzulande immer übereindeutig; offenbar misstraut man seinem Publikum so sehr, dass man den Film schon im Titel erklären möchte, damit keiner mehr durch irgendetwas überrascht wird.
Anders leben als die Masse - eine andere Form von Ideologie
Rebellieren, opponieren, Widerstand leisten, und irgendwann der ach so schrecklichen, ach so drückenden Zivilisation den Rücken kehren und irgendwo das "ganz Andere" wagen - spätestens seit 250 Jahren, seit Jean-Jacques Rousseau mit seinen Ruf "Zurück zur Natur!" das Zeitalter der Aufklärung erschütterte und die Unschuld des Wilden gegen die vermeintlichen Sünden der Kultur ausspielte, gehört der indiskrete Charme der Anarchie zum Leben der Moderne. Auch die Filmgeschichte ist voller Charaktere, die versuchten, ein ganz anderes Lebensmodell fern moderner Werte und Hygienestandards auszuprobieren - und dabei oft genug scheitern.
Das bessere Leben (19 Bilder)
Der tiefere Sinn von Ross' Film ist nun allerdings nur eine andere Form von Ideologie: Nämlich die des modernen "american way of life". "Captain Fantastic" will seinem Publikum vorführen, dass Gesellschaft, vor allem die US-amerikanische zwingend notwendig und die beste aller möglichen ist.
Dass der Traum vom gesellschaftsferner Unabhängigkeit und einem von den Ideen Rousseaus und Thoreaus inspirierten Leben in den Wäldern eng verflochten ist mit den uramerikanischen Ideen der US-Gründerväter, denen im 17. Jahrhundert ein Leben fernab der sündhaften Zivilisation Europas vorschwebte. Dass dieser Traum zwar charmant und für manche verführerisch sein mag, dass er aber heute zum Scheitern verurteilt ist. Dass er auch gar nicht wünschenswert ist, weil derartige Utopien exzentrische bis terroristische Züge haben.
Das mag ja sogar alles sein, aber muss diese Aussage einem so kritiklos und stilistisch plump serviert werden?
"Captain Fantastic" ist zwischendurch ein immer wieder sehr lustiger Film, und er unterhält gut, sobald man aber anfängt, ihn erst zu nehmen, und darüber nachzudenken, handelt es sich um höchst konventionellen, kitschigen und biederen Hollywood-Mainstream. Mehr und mehr tendiert Ross zur Verklärung der Familie und zur versöhnlichen Auflösung aller Konflikte.
Die größten Aussteiger sind die allergrößten Spießbürger - dies ist alles in allem die Botschaft dieses Films. Das ist dann doch allzu schlicht und viel zu ideologisch. Da werden selbst einem Anti-Rousseauisten, die echten Aussteiger, plötzlich sympathisch.