Das deutsche Wir und der Ukraine-Krieg

Die Verwandlung des Krieges in menschliche Schicksale

Angesichts der neuen Kriegslage stehen die Medien, die "Vierte Gewalt" im Staate Gewehr bei Fuß.

Hier finden sich sogar programmatische Erklärungen in Sachen Kriegspropaganda und geben damit Auskunft über die Rolle, die der "Qualitätsjournalismus" neuerdings ganz selbstbewusst einnimmt. So in einem Kommentar der Westdeutschen Allgemeinen zum Ukrainekrieg (Jan Jessen, Waz, 13.5.22):

Die Opfer sichtbar machen.

Auch "wir" sind im Krieg, gefühlt zumindest

Begeistert hat den Waz-Autor die Äußerung von Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen) in Butscha:

Diese Opfer könnten wir sein.

Nun befindet sich Deutschland offiziell nicht im Krieg mit Russland, warum sollten dessen Truppen daher deutsche Bürger erschießen?

Zu Kriegsopfern würden sie doch erst, wenn die deutsche Regierung den Beschluss fasste, nicht nur Waffen an die Ukraine zu liefern, sondern sich direkt in den Krieg einzumischen. Dann wären deutsche Bürger aber nicht einfach Opfer Russlands.

Ihr Tod wäre vielmehr das Ergebnis einer von der hiesigen Regierung getroffenen Entscheidung, ihre Bürger aufs Schlachtfeld zu schicken und von ihnen die Bereitschaft zu verlangen, ihr Leben im Krieg zu opfern.

Doch der Satz von Außenministerin Baerbock, der auf den Berichterstatter einen so tiefen Eindruck gemacht hat, soll nicht in dem reellen Sinn, der die Möglichkeit deutscher Opfer klärt, verstanden werden. Der Waz-Kommentar erläutert:

Es war ein bemerkenswerter Satz, der in seiner schlichten Klarheit den Krieg aus dem Bereich der militärischen und politischen Abstraktion herauslöste und auf die menschliche Ebene brachte.

Ein wirklich bemerkenswerter Satz, den der Kommentator da abliefert! Seit wann ist ein Krieg eine militärische und politische Abstraktion? In diese muss ein Beobachter ihn erst einmal verwandeln. Damit macht er deutlich, dass ihn die politischen Gründe wie auch die militärischen Kalkulationen gar nicht oder nicht in erster Linie interessieren.

Und das soll das Publikum offenbar auch nicht, wozu sich der Zeitungsmann ja programmatisch äußert. Ihm geht es darum, den Krieg in eine Reihe von menschlichen Schicksalen zu verwandeln und diese Aufbereitung der Leserschaft zu offerieren:

Es ist wichtig, ihre Geschichten zu erzählen. Krieg darf nicht als eine kühle Darstellung von militärischen Operationen oder von politischen Prozessen wahrgenommen werden.

Waz

Dass Kriege das Ergebnis von politischen Entscheidungen sind und als zielgerichtete militärische Operationen stattfinden, möchte der Autor also gerne zum Verschwinden bringen, wenn er sich um die adäquate Wahrnehmung des militärischen Geschehens auf dem Schlachtfeld sorgt.

Durch eindringliche Schilderungen von Schicksalen soll sich sein Publikum das Ganze als eine menschliche Tragödie vorstellen, wobei der Schuldige für dieses Schicksal immer schon unterstellt ist: Putin!

Gefordert ist vom Leser die moralische Parteinahme in Sachen Ukraine. Dabei ist er ja im eigentlichen Sinne – als bloßes Publikum, das von seiner Staatsmacht erfährt, zu welchen Dingen es in Friedens- und Kriegszeiten verpflichtet ist – überhaupt keine Partei. Er hat in diesem Konflikt nichts zu melden, übrigens genauso wie die Bürger in Russland oder der Ukraine.

Alle sind samt und sonders das menschliche Material und die Verfügungsmasse ihrer Politiker, die über ihr Schicksal entscheiden. Für russische oder ukrainische Bürger hat dies blutige, tödliche Konsequenzen, in Deutschland ist es – noch – nicht so weit.

Hier spürt man es an den Kassen der Supermärkte oder Tankstellen, hier darf der legendäre kleine Mann (und natürlich auch seine kleine Frau) daran teilhaben, dass seine Politiker einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führen. Und obgleich die Bürger im Lande seit Beginn des Krieges auf allen Kanälen mit den Schicksalen der Betroffenen in der Ukraine konfrontiert werden, ist dies der Waz offenbar immer noch nicht genug.

Im Hauptteil der Zeitung werden auf zwei Seiten die Leiden von Olena, Anton, Larysa und vielen anderen, die man sich merken soll, ausgebreitet. Dazu muss es im Kommentar aber noch explizit gesagt werden: Die Leserschaft soll, wie von den Medien angesagt, den Krieg vor allem moralisch betrachten und damit von den Kriegsgründen abstrahieren.