Das düstere Gemälde einer Epoche

Die Quadriga mit der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor in Berlin.

Die Quadriga mit der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor in Berlin. Bild: Shutterstock.com

Daniela Dahn zeigt in "Der Schlaf der Vernunft", wie die Welt aus den Fugen geraten ist. Und sie stellt die bange Frage, ob wir noch fähig sind, aufzuwachen. Eine Rezension.

Wer das neue Buch der Publizistin und Mitbegründerin der DDR-Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch, Daniela Dahn, liest, versteht, warum die Zeiten hin- und herschwanken, der Irrationalismus Siege einfährt und die politischen Wirren zunehmen.

Eine Warnung an uns alle

Es ist eine inspirierende und investigative Analyse unserer Zeit, die aus verschiedenen Perspektiven die Krisen der Gegenwart beleuchtet, wobei die Autorin immer den richtigen Ton trifft. "Der Schlaf der Vernunft" entfaltet dabei ein großes Panorama. Denn allzu leicht verliert man sich im Kleinklein, schnell gehen die weit gespannteren Fragebögen verloren. Dahn erinnert die Leserinnen und Leser zudem daran, dass Geschichte nicht vergangen ist, sondern wirkt.

Das Buch enthält dabei eine These, die als Warnung an uns alle verstanden werden sollte: Die Vernunft schläft in der Politik, und das hat fatale, lebensbedrohliche Auswirkungen.

Dahn bezieht sich dabei auf die berühmte Radierung des spanischen Malers Francisco de Goya "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Die Napoleonischen Kriege wüteten damals, um die Wende zum 19. Jahrhundert, als Goya das Werk schuf, heute bedrohen die Stellvertreterkriege in der Ukraine und im Nahen Osten die Weltordnung.

Daniela Dahn: "Der Schlaf der Vernunft", 192 Seiten

Es ist eine düstere Metapher, die auch an den Spruch des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci aus dem Jahr 1930 erinnert. Während er den Faschismus in Europa aufziehen sah, schrieb Gramsci im Gefängnis: "Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen: Es ist die Zeit der Monster."

Die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs

Bei Dahns Buch geht es ebenfalls um, wie Gramsci sich ausdrückte, "morbide Erscheinungen" vor dem Hintergrund eines drohenden Desasters. Heute hat die Bedrohung globale Ausmaße angenommen, wie schon im ersten Satz klargemacht wird:

Da sitze ich an einem Buch über Vernunft und kann mir nicht sicher sein, ob bei seinem Erscheinen nicht schon der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.

Das erinnert an Walter Benjamins "Engel der Geschichte" in seinen geschichtsphilosophischen Thesen – geschrieben 1940 unter dem Eindruck des Siegeszugs des Nationalsozialismus und des Hitler-Stalin-Pakts –, der zurückschaut und "eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft", vor sich sieht.

Nun gehe es am Ende einer Kette von Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte um das Überleben der Menschheit, so Dahn. Die Welt sei immer mehr zu einer globalen Gefahrenzone transformiert worden, mit Kriegen, Krisen und Seuchen, weil die politisch Verantwortlichen unverantwortlich handelten:

Sie halten nicht hinreichend Schaden von ihrem Volk ab. Wozu sie sich verpflichtet haben. Sie versagen darin, eine Friedensordnung zu gewährleisten, den irreparablen Kipppunkt des Klimas zu verhindern, Fluchtursachen zu bekämpfen.

Die Regierungen sind der Rechtsruck

Die Regierungen gingen dabei ein Weltkriegsrisiko ein, "um ihre Werte, also ihre Herrschaft, durchzusetzen. Sie selbst sind der Rechtsruck." Die einzige Rettung, den Ungeheuern der Gegenwart zu begegnen, sei es, so Dahn, sich ihnen mit Vernunft zu widersetzen.

Natürlich weiß Dahn, dass die Vernunft auch in der Vergangenheit keinesfalls die Entscheidungshoheit in der Berliner Republik (wie in der Politik generell) innehatte, sondern Interessengruppen, Lobbys und militärische Allianzen den politischen Kurs bestimmten. Das gilt für die Unterstützung der US- und Nato-Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und Irak, das neoliberale Aushöhlen der Gesellschaft und die kapitalistischen Schädigungen von Konzernen, insbesondere im Globalen Süden.

Aber viele der Krisen hätten sich immer mehr zu existenziellen Bedrohungen hochgeschraubt: zur atomaren Kriegsgefahr, zu einem Klimanotstand, einem zerstörerischen Kapitalismus und zu einer demokratischen "Repräsentationslücke", die den Nährboden für politischen Extremismus bietet.

Diese Bestandsaufnahme ist leider allzu berechtigt. So stellte die Wissenschaftsorganisation "Bulletin of the Atomic Scientists", gegründet 1947 u.a. von Albert Einstein, die sogenannte Weltuntergangsuhr ("Doomsday Clock") in den letzten beiden Jahren auf 90 Sekunden vor Mitternacht, so nah wie nie zuvor. Mitternacht bedeutet "Game Over" für die Menschheit.