Das düstere Gemälde einer Epoche

Seite 2: Wie konnte es so weit kommen?

Ein zentraler Grund für den Katastrophenkurs besteht für die Forschergruppe in der steigenden Atomkriegsgefahr im Zuge des Kriegs in der Ukraine. Der zweite sei die eskalierende Klimakrise.

Demgemäß warnt UN-Generalsekretär António Guterres seit Jahren, dass sich die Erde "in der Notaufnahme" befinde und die Welt auf einer "Highway Richtung Klimahölle" steuere. Zugleich kritisiert der Papst mit scharfen Worten den ungezügelten Kapitalismus als "neue Tyrannei" und prangert dessen tödliche Ökonomie der Ungleichheit an.

Dahn erkundet im Buch einige Gründe dafür, wie es so weit kommen konnte. Sie schildert und analysiert den seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts 2014 sich hochschaukelnden Schatten- und Stellvertreterkrieg zwischen der US-geführten Nato und Russland. Mit dem Versuch, die Militärallianz auf die Ukraine auszuweiten, hätte Washington Moskau in die Enge getrieben und rote Linien überschritten, wohl wissend, welche Gefahren und Reaktionen die hegemoniale Expansion auslöse.

Das rechtfertige den russischen Angriff nicht, aber entlasse den Westen nicht aus der Verantwortung für das Desaster. Vor allem gäbe es einen möglichen Ausweg: Verhandeln. Doch das werde als Appeasement gegenüber dem vermeintlichen russischen Imperialismus denunziert.

Feindbilder und Propaganda

Der "lange Marsch ins Kriegsklima", in die militarisierte Zeitenwende, sei dabei von geistigen Mobilmachern eskortiert worden, die mit Feindbildern und Propaganda eine Gesellschaft von der Friedens- in die Kriegstüchtigkeit manövrierten. Statt Wege zur Diplomatie zu suchen, dominiere nun ein moralischer Absolutismus, der blind für die Folgen sei.

Nicht alles, was legal und legitim ist, ist auch sinnvoll. Wenn eine berechtigte Verteidigung unverhältnismäßig viele Opfer und Zerstörung kostet, dann macht sie keinen Sinn mehr. Dann muss man eher von "gesinnungsethischem Verteidigungsbellizismus" sprechen. Von einem Schlaf der Vernunft, der sich verheerend auswirkt.

Auch ökonomisch und sozial werde Politik im Schlafwandler-Modus betrieben, mit den absehbaren Auswirkungen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die nicht nur in Deutschland auf Rekordniveau liegt, werde immer obszöner.

Eine aktuelle Erhebung, so Dahn, zeige z.B., dass "die Zahl derjenigen, die über 100 Millionen Dollar besitzen, um 10 Prozent gestiegen ist, auf 3300 Superreiche. Relativ auf die Bevölkerung bezogen liege Deutschland damit hinter den USA auf dem zweiten Reichtumsplatz."

Die Überrumpelung der Ostdeutschen

Die Konsequenz davon sei, dass Demokratie de facto ausgehebelt werde und zu einer Fassade verkommt, wie Politikwissenschaftler und Kritiker seit Jahren warnen. Denn wo "kein Haben ist, da ist kein Sagen", schließt Dahn an Ludwig Erhard an. Die Klassen-Ordnung der marktkonformen bzw. kapitalistischen Demokratie nehme den Menschen das Selbstwertgefühl und bereite zugleich die Bühne für rechtsextreme Parteien, die den Frust und die Abstiegsängste für sich verwerten könnten.

Dahn hat auch einen persönlichen Grund, auf Goyas Denkbild über den Schlaf der Vernunft zurückzugreifen. Vor 35 Jahren organisierte sie mit dem Lyriker Jürgen Rennert in der Berliner Erlöserkirche eine Protestveranstaltung aller wichtigen DDR-Schriftsteller unter dem Motto "Wider den Schlaf der Vernunft".

Damals ging es um die "schläfrigen Gerontokraten im Politbüro". Das Buch verbindet dann auch diese beiden "ungeheuerlichen" Krisenzeiten in einem Spannungsbogen. Es ist zugleich eine Bilanz, die aufzeigt, wie mit dem Fall der Mauer Chancen verpasst, Möglichkeiten in den letzten 35 Jahren in Frust verkehrt und Erwartungen enttäuscht wurden.

Denn weder wurde nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die Friedensdividende in eine europäische Sicherheitsordnung umgemünzt, noch ein gemeinsames besseres Deutschland kreiert. Vielmehr wurden die Ostdeutschen politisch überrumpelt bei der Wiedervereinigung, vom westlichen Markt überrannt, von Investoren enteignet, von Historikern als Diktaturopfer verzwergt und schließlich persönlich entwertet, indem die Westeliten in zentralen Institutionen das Ruder übernahmen.

Kann die Vernunft wieder erwachen?

Dabei sendeten Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und Bundeswehr, so Dahn, seit 1989 beständig rechtslastige Signale in die Bevölkerung, die als Ermutigung für Neonazis dienten. Vermischt mit dem strukturell eingepflügten Frust ging diese Saat später auf. Und das nicht nur im Osten, sondern überall in der Republik.

Wenn die Vernunft nur schläft, kann sie dann nicht wieder aufwachen? Dahn will am Ende des Buchs die Leserinnen und Leser nicht beruhigen angesichts der Ungeheuer – und sie damit wieder einschläfern.

Sie ist Realistin und weiß aus eigener Erfahrung, wie die friedliche Revolution in der DDR in Restauration versandete. Sie ist sich zudem über die Schwierigkeiten bewusst, unter den real-existierenden Machtverhältnissen den Kapitalismus zu bändigen, wenn nicht zu überwinden, und die Gesellschaft demokratietüchtig zu machen.

Aber sie sieht in dem unterirdischen Rumoren heute nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance – wenn denn die Menschen für eine bessere Ordnung eintreten und die Kräfteverhältnisse ändern. Es ist eine zarte, von den Ungeheuern der Gegenwart belagerte Hoffnung.

Unter den gegebenen Umständen bleibe ich skeptisch, ob menschliche "Vernunft" das, was sie angerichtet hat, auch richten kann. Nichts wünsche ich mir mehr, als mich zu irren.